Auch der Balljunge hat keine Chance

■ Mit dem Gewinn der German Open in Berlin zeigt die Schweizerin Martina Hingis, daß sie nicht gewillt ist, ihre Spitzenstellung im Frauentennis in nächster Zeit abzugeben

Berlin (taz) – Von dem ehrwürgien Spruch, daß das nächste Spiel immer das schwerste sei, hat Martina Hingis noch nichts gehört. Es sei ihr schon sehr lieb, daß sie im Finale der German Open von Berlin nicht gegen Steffi Graf oder sonst jemanden aus den Top ten spielen würde, sondern gegen Julie Halard, sagte die Tennisspielerin aus der Schweiz und ließ keinen Zweifel daran, daß sie nicht die mindesten Befürchtungen hegte, sie könne gegen die Französin verlieren. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten war berechtigt. Die Nummer eins der Weltrangliste fertigte Halard gestern mittag locker mit 6:0, 6:1 ab.

Schon am Tag zuvor hatte die 18jährige vor Erstaunen ganz große Augen bekommen, als sie nach ihrem Halbfinalsieg über Arantxa Sanchez-Vicario gefragt wurde, ob sie gegen die Dauerläuferin aus Spanien auf ein längeres Match gefaßt gewesen sei. „Nein, auf drei Sätze habe ich mich wirklich nicht vorbereitet“, platzte sie heraus, sichtlich indigniert, daß jemand so etwas Absurdes annehmen könne. Immerhin räumte sie ein, daß Sanchez-Vicario besser gespielt habe als erwartet. „Sie läuft sich für die French Open warm, das ist ja ihr glückliches Turnier“, wußte Hingis auch den Grund für die unplanmäßige Renitenz.

Nachdem die Schweizerin im vergangenen Jahr einen vor allem durch Motivationsprobleme bedingten Durchhänger hatte und die Führung in der Weltrangliste sogar für eine Weile an Lindsay Davenport abtreten mußte, strotzt sie inzwischen wieder vor Selbstbewußtsein, und das Tennis macht ihr sichtlich Spaß – zumindest solange sie die Oberhand behält. Über einen gelungen Stoppball oder spektakuläre Ballwechsel freut sie sich diebisch, und beim Match gegen Sanchez-Vicario schaffte sie es spielend, die eigentlich bei ihrer kämpferischen Gegnerin angesiedelten Sympathien des Publikums zu ergattern. Als Sanchez-Vicario einige Minuten in die Umkleidekabine verschwand, drückte Hingis dem nächstbesten Balljungen einen Schläger in die Hand und unterhielt die Zuschauer mit einem kleinen Einlagematch. „Wenn ich mich hingesetzt hätte“, sagte sie später in Anspielung auf das naßkalte Wetter, „wäre ich zum Eisblock geworden“. Sanchez-Vicario, die möglicherweise genau das beabsichtigt hatte, quittierte die ausgelassene Stimmung auf dem Center Court bei ihrer Rückkehr mit scheelem Blick und war fortan nicht mehr der uneingeschränkte Liebling der Massen.

Läuft es bei Hingis mal nicht wie gewünscht, ist sie jederzeit in der Lage, ihre Taktik zu ändern, das Tempo anzuziehen oder sich in Geduld zu üben, statt schnelle Punkte machen zu wollen. Vor allem gerät sie nicht aus der Fassung, wenn riskant gespielte Bälle nicht dort landen, wo sie diese hinhaben möchte. „Es kommt irgendwann, daß man die auch trifft“, ist sie sicher. Wie nach einer kurzen Schwächeperiode im Viertelfinale gegen die Österreicherin Barbara Schett: „Ich habe die Augen zugemacht und alles ging rein.“

Ihr erster Turniersieg in Berlin war der vierte der Saison, dadurch zieht sie mit Venus Williams gleich. Die ebenfalls 18jährige US-Amerikanerin und deren ein Jahr jüngere Schwester Serena sind mit ihrem kraftvollen Haurucktennis derzeit wohl die einzigen Spielerinnen, die Hingis ernsthaft gefährden können. Ob sie denn nicht neidisch sei auf den athletischen Körperbau und die Größe der Kontrahentinnen, wurde sie in Berlin gefragt. Ach, sagte Martina Hingis da nach kurzem Grübeln: „Ich denke, ich habe dafür mehr Köpfchen.“ Matti Lieske