■ Der Krieg trifft die nachfaschistische Identität der Deutschen
: Joschka und die Natur der Hysterie

Joschka Fischer begreift nicht, warum man ihn als blutbefleckten Mörder hinstellt, während man auf die Greuel Miloevic' vergleichsweise kühl reagiert. In seiner Bielefelder Rede fragte er seine Gegner, die ihm den Krieg anlasten, wie sie das, was in Jugoslawien seit 1992 geschieht, denn benennen würden. Er will auch Slobodan Miloevic' Vorgehen als Krieg bezeichnen – mit dem Vorteil, daß der von ihm zu verantwortende Krieg dann als legitime Nothilfe in Erscheinung tritt.

Gehen wir einmal darüber hinweg, daß das Völkerrecht auf einem anderen Standpunkt steht und als Krieg, der zu militärischer Nothilfe berechtigt, nur die Gewalt ansieht, die sich nach außen richtet. Gehen wir einmal darüber hinweg, daß es dafür einen guten Grund gibt – die Weltkriegsverhütung –, und streiten uns nicht darüber, ob man Miloevic' Greuel „Krieg“ nennen kann. Denn denjenigen, die gegen Fischer rasen, geht es nicht um das Völkerrecht und auch nicht um Weltkriegsverhütung. Sie sind so in Rage, weil sie das Töten freigegeben sehen. Und in dieser Frage gibt es zwischen den Tötungen, die Miloevic und denen, die Fischer freigegeben hat, tatsächlich einen riesigen Unterschied: Im ersten Fall töten andere, im zweiten töten „wir“.

Nicht, weil sie heimlich mit Slobodan Miloevic sympathisieren, regen sich diejenigen, die jetzt Stinkbomben werfen, über die deutsche Beteiligung an den Nato-Angriffen mehr auf als über die Kosovo-Verbrechen. Wenn sie diesen Unterschied machen, so folgen sie lediglich dem Prinzip „Ein jeder kehr' vor seiner Tür“ – und wenn sie dabei so außer sich geraten, so geschieht das deshalb, weil sie auf unserer Seite den Bruch eines Tabus, einen Frevel vor sich sehen.

Tabu und Frevel führen ihrer Natur nach zu hysterischen Reaktionen. Die Deutschen nach Hitler haben sich vor ihrer Vergangenheit durch die Unterwerfung unter das Tötungstabu geschützt, dem sie eine Bedingungslosigkeit gaben, die neu und einmalig ist. Die Zugehörigkeit zu dem mörderischen Volk, in das sie unfreiwillig hineingeboren wurden, erlaubte ihnen lediglich eine schmerzhafte negative Identität, der sie nur durch den stillen Schwur, nie wieder zu töten, entrinnen konnten. Diejenigen, die sich noch im Banne dieses stillen Schwurs fühlen, diejenigen, die als Deutsche nur aufrecht gehen mögen, solange dieser stille Schwur eingehalten wird, wollen nicht nur nicht eigenhändig, sondern auch als Kollektiv nicht töten und sehen sich durch den Nato-Krieg in die Barbarei zurückgestoßen. Sie können der Logik nicht folgen, daß man, so gut wie man Auschwitz freibomben durfte, so gut auch das Kosovo mit todbringenden Mitteln befreien darf. Sie identifizieren sich in ihrer Holocaust-Verarbeitung nicht mit den Alliierten, sondern mit ihren Vätern und Müttern, aus deren Untaten sie die nötige Konsequenz ziehen wollen. Und wenn Fischer – mit welchem Motiv auch immer – als Repräsentant der Grünen zum Töten ermächtigt, so fürchten sie, durch Blut befleckt zu werden, von dem man sich nach ihrem Gefühl nicht reinwaschen kann. Sie haben es ihm in einem Farbbeutel zurückgeworfen.

Wie auch immer man den aggressiven Anschlag beurteilen mag – er hat zum Ausdruck gebracht, daß die deutsche Beteiligung an den Tötungen in Serbien die nachfaschistische deutsche Identität in ihrem Kern trifft. Man hört auf, Deutscher zu sein, wenn man die Auschwitz-Erfahrung als Aufforderung auffaßt, das Böse mit militärischer Gewalt auszurotten. Es ist verlockend, sich nicht mehr dem deutschen Volk zugehörig zu fühlen, sondern seinen Opfern, für die das Bombardement die Befreiung bedeutete; es ist verlockend, sich der eigenen geschichtlichen Erfahrung durch monumentale Denkmäler zu entledigen und der Lektion, die aus dieser Erfahrung auf der Täterseite zu lernen war, durch einen Austausch der Täter-/Opfer-Position auszuweichen. Diejenigen aber, die sich dieser Erfahrung stellen und sich dem Tötungstabu weiterhin unterworfen fühlen, sind ernst zu nehmen – auch wenn einige von ihnen dabei in Hysterie verfallen. Es wäre falsche Bescheidenheit, wenn sich die Deutschen ihrer Aufgabe, zur Stärkung dieses Tabus beizutragen, nicht stellten. Sie ist für die Weiterentwicklung der Menschheit unerläßlich. Sibylle Tönnies