Keine Rechtfertigung für Jelzin

Rußlands Präsident übersteht die drohende Amtsenthebung. Selbst ehemalige Reformer fällen ein vernichtendes Urteil über seine Politik  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die kommunistische Mehrheit in der russischen Duma mußte am Wochenende eine unerwartete Niederlage hinnehmen. Nach dreitägiger Debatte im Parlament, die nach den Wünschen der linken Opposition in einem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Jelzin hätte gipfeln sollen, bestätigten die Abgeordneten keinen der fünf gegen den Kremlchef erhobenen Anklagepunkte mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. 94 Abgeordnete waren dem Urnengang ganz ferngeblieben. Moskaus zentrale Klinik für privilegierte Patienten meldete am Wochenende, unverhältnismäßig viele unpäßliche Deputierte hätten sich in Behandlung begeben.

Die Opposition hatte Jelzin zur Last gelegt, den Zerfall der UdSSR betrieben und den Obersten Sowjet 1993 mit Gewalt gesprengt zu haben. Überdies habe Jelzin den kläglichen Zustand der Armee und – als Ergebnis der sogenannten Reformpolitik – „einen Genozid am russischen Volk“ zu verantworten. Diese Anklagepunkte hatten von vornherein wenig Aussicht, die Zustimmung der gemäßigteren Fraktionen zu erhalten. Der Vorwurf indes, 1994 Rußland in einen blutigen Krieg in Tschetschenien verwickelt zu haben, schien bis zuletzt, auch von den Deputierten anderer Parteien, unterstützt zu werden.

Statt der notwendigen 300 Volksvertreter sprachen sich nur 283 dafür aus. Die übrigen Anklagepunkte erhielten noch weniger Zuspruch. Damit ist der Versuch der Kommunisten, die dem langwierigen Amtsenthebungsverfahren eine Schlüsselrolle im Duma-Vorwahlkampf zugedacht hatten, gescheitert. Der Fraktionsvorsitzende, Gennadi Sjuganow, konnte die Enttäuschung kaum verbergen. In seiner abschließenden Rede nannte er Boris Jelzin eine Ausgeburt „ des absolut Bösen“. Im Gegensatz zu Napoleon und Hitler hätten Jelzin und sein Team es fertiggebracht, „eine tausendjährige Macht in Stücke zu reißen“.

Das Scheitern des Amtsenthebungsverfahrens kann kaum als Vertrauensabstimmung für den Präsidenten gelten. Selbst der Fraktionsvorsitzende der ehemaligen Regierungspartei „Unser Haus Rußland“, Nikolai Ryschkow, äußerte sich kritisch, ohne dabei die Mitschuld zu verleugnen: „Daß wir das Impeachmentverfahren unhaltbar finden, ist keine Rechtfertigung für Jelzin und seine Herrschaft.“ Die Namen von rechten und linken Architekten, die Rußland ruiniert hätten, gingen gleichermaßen in die Geschichte ein. „Heute haben wir aber noch eine Chance, unsere Fehler zuzugeben, tun wir das nicht, wird die Geschichte es übernehmen.“ Ryschkow fällte am Ende ein vernichtendes Urteil über den Kremlchef: „Nach zehn Jahren von Rückschlägen und Verarmung hat er uns in einen Zustand manövriert, wo wir mit allem von Null beginnen müssen.“

Die dreitägige Debatte hat in aller Klarheit gezeigt, wie tief das Mißtrauen gegen den Präsidenten auch im gemäßigten Lager sitzt. Anschaulich beschrieb das der liberale Abgeordnete Wladimir Lysenko, der behauptete, Jelzin befände sich in totaler politischer Isolation: „Er ist in einem vollständigen Vakuum, so wie Zar Nikolai II. 1917“. Um den Präsidenten hätte sich „eine Todeszone ausgebreitet wie die von Tschernobyl“.

Dennoch werteten Präsident und Administration den Wahlausgang als einen taktischen Sieg, der kurzfristig etwas Ruhe einkehren läßt. Am Mittwoch steht in der Duma indes ein neuer Wahlgang an. Nachdem Boris Jelzin letzte Woche Ministerpräsident Jewgeni Primakow entlassen hat, muß die Duma nun den amtierenden Premier Sergej Stepaschin im Amt bestätigen. Ob die Kommunisten so kurz nach der unerwarteten Niederlage erneut bereit und in der Lage sein werden, dem Kremlchef die Stirn zu bieten, ist fraglich. Sollten sie die Kandidatur Stepaschins dreimal hintereinander ablehnen, müßte Jelzin das Parlament auflösen und binnen drei Monaten Neuwahlen abhalten. Das schreibt die Verfassung vor. Die Kommunisten befürchten unterdessen, der zornige Kremlzar könnte ihnen in einem weiteren Wahlgang plötzlich einen neuen, womöglich als Reformer verschrienen Kandidaten vorsetzen. Ihn müßten die Kommunisten notgedrungen mittragen, wenn sie die Auflösung der Duma verhindern wollen. Voraussichtlich wird sich der machtbesessene Präsident zu guter Letzt wieder durchsetzen.