Im Schatten junger Mädchenblüte

■  Die verwirrend schöne und problematische Zeit nach der Kindheit und vor der Pubertät: „Das Sommeralbum“ von Kai Wessel, der Kinderfilm des Monats Mai, mit Eva Mattes und ihrer Tochter Hanna in den Hauptrollen

Ein Auto fährt heran. Vom Horizont kommend wird es langsam immer größer, während es über den unbefestigten Feldweg wakkelt. Über der weiten Landschaft liegt das helle, unverbrauchte Licht des ausgehenden Frühlings, den Sommeranfang kann manförmlich riechen. Als das Auto näher kommt, sieht man, daß es eher ein Automobil ist, eines der ersten seiner Art. Im offenenen Fond sitzen Menschen mit Fliegerkappen und Fliegerbrillen, in weiten, sommerlich weißen Anzügen, die weißen Schals flattern ihnen um den Hals.

Kaum ist der Film wenige Minuten alt, sind wir auch schon erfolgreich eingetaucht in das Jahr 1905, in dem Josefine Stern die Fotos für „Das Sommeralbum“ fotografieren wird. Frau Stern ist mit ihren beiden Söhnen, ihrer Tochter und ihren Dienstboten auf dem Weg von Berlin nach Litauen, um wie jedes Jahr den Sommer in ihrem dortigen Haus am Meer zu verbringen. Dort wird Frau Stern im Garten sitzen, die Seeluft genießen, Berichte von den Kunstausstellungen in der fernen Reichshauptstadt lesen und des abends mit dem ältesten Sohn Theater und Philosophie diskutieren.

Josefine Stern ist elf Jahre alt. Zu alt, um sich allein mit den Puppen zu beschäftigen, aber zu jung, um ohne Begleitung an den Strand zu gehen oder gar in der Scheune mit ihren beiden älteren Brüdern an deren Geheimprojekt, einem Fluggerät, zu basteln. Das einzige andere Mädchen weit und breit, das standesgemäß und gleichaltrig wäre, ist eine hochnäsige Nervensäge. Niemand bemerkt, daß Josefine kein kleines Kind mehr ist.

Der Sommer droht ein außergewöhnlich öder zu werden. Dann schenkt ihr der Vater eine Kamera. Fortan schleppt sie die tonnenschwere Ausrüstung durch die Landschaft, beginnt sich fotografierend ihre Umwelt anzueignen und mit Hilfe der Kamera ihre Einsamkeit zu überwinden.

In berückend schönen, fast schon geschmäcklerischen Bildern beschrieb Kai Wessel 1991 in „Das Sommeralbum“ sehr exakt die Verwirrung jener Zwischenzeit nach dem Kindsein und vor der Pubertät, jenen Schwebezustand zwischen allein sein wollen und dann doch nicht können. Ein Glücksfall für Wessel war dabei die Tatsache, daß Mutter und Tochter von Eva Mattes und ihrer Tochter Hanna gespielt wurden.

Ein fast noch wichtigerer Protagonist ist der Sommer. Er läßt den Wind übers Meer rauschen, auf den Dünen den Sand aufwirbeln und bauscht die stets weißen Leinenkleider und -hosen auf. Und die Wälder sind dunkel und grün und schweigsam, als befänden wir uns nicht in Litauen, sondern in einem tiefdeutschen Traum. All das hat Wessel mit dem Sinn für den Augenblick, für die Schönheit des Moments gefilmt. Und im Unterschied zu seinem vier Jahre später entstandenen Umwelt-Kinderkrimi „Die Spur der roten Fässer“ nicht ausschließlich mit Blick auf ein minderjähriges Publikum.

„Das Sommeralbum“ ist ein Film und nicht ausdrücklich ein Kinderfilm. Wie in seinem Spielfilmdebüt „Martha Jellneck“ erzählt er fast schon provozierend ruhig und widersetzt sich so konsequent den modernen Anforderungen ans Quietschbunte, sich vor Aktionismus überschlagende Produkt Kinderfilm. Auch dafür wurde „Das Sommeralbum“ beim Kinderfilmfest der Berlinale von der Kinderjury lobend erwähnt. Thomas Winkler ‚/B‘„Das Sommeralbum“: Regie: Kai Wessel. Mit Eva und Hanna Mattes u. a. D 1991, 91 Min. Läuft bis zum 1. 6 in verschiedenen Kinos, weitere Informationen unter 4 49 47 50