Wenn die Gedanken fliegen

Das arabische wie das europäische Publikum mitgedacht: „Das Schicksal“ vom Ägypter Youssef Chahine  ■ Von Malte Hagener

Wie läßt sich als mitteleuropäischer Zuschauer etwas vermeintlich „Exotisches“ betrachten, ohne händchenhaltenden Multikulti-Phantasien oder Ethno-Brimborium zu erliegen? Wie kann man aus der mitteleuropäischen Position über den bekanntesten Regisseur Ägyptens, Youssef Chahine, schreiben? Zuschreibungen wie „der Fellini Ägyptens“, mit denen er häufig bedacht wird, zeigen nur, daß es zuallererst der eigene Blick mit all seinen Stereotypen und Vorurteilen ist, ob positiv oder negativ, der die Rezeption lenkt.

Die Aneignung des Anderen – denn eine aktive Wahrnehmung anderer Kulturkreise ist immer auch eine Aneignung – findet stets in Kategorien des Eigenen statt. Auch wenn man diese Voraussetzung akzeptiert, gibt es zusätzliche Komplikationen, denn das Fremde, in diesem Fall das ägyptische Kino, wird so zu einer monolithischen Einheit ohne Bruchstellen. Doch Chahines Leben und Werk ist von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet: 1926 in Alexandria als Sohn eines libanesischstämmigen Anwalts und einer Griechin geboren, wuchs er im kosmopolitischen Intellektuellenmilieu der weltoffenen Hafenstadt auf. Er studierte Theater in Kalifornien und drehte in zahlreichen arabischen Ländern über 30 Filme in den unterschiedlichsten Genres. Die westliche Kritik erteilte ihm, seit er in den 50er Jahren auf Festivals erstmals auf sich aufmerksam machte, den Alleinvertretungsanspruch für das ägyptische, ja teilweise sogar für das gesamte arabische Kino. Mit Das Schicksal, seinem neuen Werk, macht Chahine deutlich, daß er sich dieser Position nur allzu bewußt ist und geschickt mit ihr zu jonglieren weiß.

Im christlichen Languedoc des 12. Jahrhunderts brennt ein Mensch. Der französische Übersetzer des arabischen Philosophen Ibn-Ruschd (bei uns als Averroes bekannt) wird auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, weil er ketzerischerweise einen „Ungläubigen“ übertrug; sein Sohn rettet sich nach Andalusien, wo Ruschd als Richter am Hof des Kalifen tätig ist. Der politisch verfolgte Christ muß sich nach Westen ins tolerant-islamische Reich flüchten – mit einer Reihe solcher Umkehrungsmanöver der heutigen Situation und damit auch der Erwartungshaltung der Zuschauer, die davon ausgehen, daß sich politisch verfolgte Muslime aus dem islamischen Osten in den tolerant-christlichen Westen retten, gelingt Cha-hine, die Vorurteile ebenso zu antizipieren wie zu entkräften.

Ein europäisches und ein arabisches Publikum werden von Anfang an mitgedacht und immer wieder mit ihren Vorurteilen konfrontiert. Doch auch im andalusischen Islam ist die Toleranz zerbrechlich: Eine radikal-religiöse Sekte ringt um die Herrschaft, verübt Attentate und sorgt am Ende dafür, daß Ruschds Bücher dem Feuer übergeben werden. Die Kamera folgt dem aufsteigenden Rauch, aus dem die Worte „Gedanken haben Flügel, niemand hält sie auf“ erscheinen, unterzeichnet von Chahine – Hauptfigur und Regisseur kommen zumindest in diesem Moment zur Deckung.

Ruschds Aristoteles-Kommentare waren für die weitere Entwicklung der Philosophie von immenser Bedeutung, doch als Wanderer zwischen der christlich-abendländischen und islamisch-orientalischen Welt stieß er – ebenso wie Chahine – auf beiden Seiten auf Unverständnis und Feindschaft für seine kompromißlosen Ansichten.

Chahines letzter Film L'emigré wurde in Ägypten verboten, und Das Schicksal ist auch eine direkte Antwort auf die Intoleranz, der sich der Regisseur gegenübersah. Zwischen den beiden Scheiterhaufen als Fanale der Intoleranz entfaltet der Film ein Kaleidoskop an Figuren, Situationen und Motiven, die auf unterschiedlichste Genres wie Polit-Thriller, Historienfilm, Musical oder Sitcom verweisen. Mal deliriert die Kamera mit den Fanatikern auf Gewaltmärschen durch die Wüste, dann rast sie ziellos durch enge Festungsgänge oder tanzt ausgelassen mit den Hauptfiguren. Die Kamera ist eben die Waffe des Filmemachers.

Chahines filmische Judotechnik, die Attacken immer wieder auf ihre Urheber zurückweist, wird auch von seinem Helden übernommen: Ruschd wirft selbst seine Bücher ins Feuer und führt damit der johlenden Menge, die der Bücherverbrennung beiwohnt, vor Augen, was sie damit erreicht: gar nichts.

Der Film läuft im Metropolis. Genaue Termine siehe Übersicht rechts