Volker hört wieder Signale

Volker Ippig galt als Gegenentwurf eines Profifußballers. Der Mythos lastete lange auf ihm. Jetzt hat er sich eingerichtet – im Einklang mit der Natur, dem Ball und St. Pauli  ■   Von Rainer Schäfer

Lensahn (taz) – Gespräche mit Volker Ippig können überraschende Wendungen nehmen: Die telefonische Terminabsprache wird plötzlich zur kleinen Literaturlesung. Nicht das Erwartete dringt aus dem Telefonhörer, keine Graswurzel-Lyrik, keine Revoluzzer-Prosa, keine Sponti-Reime. Manchmal müssen es Klassiker sein, wie die „Ehre“ von Theodor Fontane: „Das flüchtige Lob, des Tages Ruhm / Magst du dem Eitlen gönnen / Das aber sei dein Heiligtum / Vor dir bestehen können!“

Ist der Vollbärtige im Landfreak-Outfit, mit Holzfällerhemd und einer tätowierten indianischen Schildkröte auf dem Unterarm unbemerkt unter die Bildungsbürger geraten? Oder ist gar Schlimmeres geschehen?

Fontane ist ein Interpretationsschema, das Ippig auch auf Fußball anlegen kann. „Nicht nur für Geld zu spielen, sondern für sich selbst einzustehen. Sonst hat man ja nicht viel.“

Das sind Ansichten, die man auch wieder am Millerntor hören kann. Seit Februar arbeitet Ippig (36) nach sieben Jahren Unterbrechung wieder für den Zweitligisten FC St. Pauli. Er trainiert die Torhüter der A- und B-Jugend: Johannes Greef, Dirk Hannemann, Daniel Wirth und Yavuz Karabulut. „Ein Ippig ist noch nicht dabei“, hat er erkannt.

Jeden Mittwoch legt er die 113 Kilometer von seinem Wohnort Lensahn zum Heiligengeistfeld zurück, wo er – mit Unterbrechungen – von 1981 bis 1991 im Tor stand und wie kein anderer an der Identität des FC St. Pauli gestrickt hat. Er war für den St.-Pauli-Support Ende der 80er Jahre die Projektionsfläche für Sehnsüchte nach anderem, irgendwie links gedachtem Fußball. Wenn Ippig die Gegengerade am Millerntor mit der erhobenen Arbeiterfaust begrüßte, galt der FC St. Pauli bei manchem Theoretiker als Vorzeigemodell für die bessere Zukunft einer von ihren Wurzeln entfremdeten Sportart.

Der Nonkonformist entsprach so gar nicht dem Klischee des Fußballprofis: Ippigs enormes sportliches Potential und Streben kollidierten immer mal wieder mit dem Anspruch, sich selbst, am besten politisch korrekt, zu verwirklichen. Der Hafenstraßenbewohner hörte nicht nur Signale auf dem Fußballfeld, er ließ das Tor hinter sich, um an einer Behindertenschule zu arbeiten oder im sandinistischen Nicaragua Aufbauhilfe zu leisten. Dazu hat Ippig „immer gestanden. Aber ich war nie der große politische Ideologe, zu dem man mich gemacht hat. Ich war immer mehr der Freigeist.“ Als der Mythosbeladene 1992 nach 65 Erstligaeinsätzen wegen einer Rückenverletzung mit dem Profifußball abschließen mußte, stand er da. Lebensplanung? „Hatte ich nie.“ Er war fleischgewordener Inbegriff eines verklärten Fußballgegenentwurfs, der aber zunehmend durch die eigene Realexistenz konterkariert wurde. Ein 29jähriger Sportinvalide, den „auf einmal niemand mehr brauchte“ und dem auch gesellschaftliche Utopien „keinen richtigen Sinn mehr gaben“.

Ippig tauchte in seinem ostholsteinischen Heimatdorf Lensahn ab, unter 5.000 Seelen ein „verbitterter Einsiedler“ im Wildleder-Trapperlook, der phasenweise „den Blick für die Zusammenhänge verlor und sich selbst isolierte“. Besuchern las Ippig damals keine Gedichte vor, er wies ihnen die Tür. „Ich habe viel Zeit damit verbracht, zu grübeln, warum die Welt so schlecht ist. Aber man beißt sich daran die Zähne aus.“

Die Phase der Sinnsuche ist längst abgeschlossen. Entspannt geht der Hausmann und Heilpraktiker ohne Zulassung („war wohl zu faul“) seine Tage an, betrachtet seine Umgebung stoisch gelassen „wie ein tausend Jahre alter Baum“. Mit Ehefrau Corinna und den beiden Töchtern Emma und Leila (dreieinhalb Jahre und neun Monate alt) lebt er „glücklich und zufrieden“ in einem kleinen Backsteinhaus.

Ein Entertainer für gesellige Runden ist aus ihm nicht geworden, aber eine Art Vital-Enthusiast, der „positive Kraft braucht und gibt, um leben zu können. Und Leben ist jetzt, sofort, überall.“ Am intensivsten draußen, im Freien, wenn ein Feuer brennt, wo die unterschiedlichsten Kräuter gedeihen und die Kräfte der Natur berauschen können.

Materielle Werte spielen in Ippigs Natur- und Nischenphilosophie eine untergeordnete Rolle. „Wer sein Glück von Geld abhängig macht, ist beschränkt. Froh zu sein bedarf es wenig.“ Der Schein der Warenwelt ist trügerisch, was zählt, ist die „Rückbesinnung auf sich und zu wissen: Wer ist man eigentlich?“ Bei aller Zivilisations- und Kapitalismuskritik: Allein gegen den Strom schwimmen will Volker Ippig nicht mehr. „In diesem System braucht man ein wenig Geld. Aber man muß nicht jeden Irrsinn mitmachen.“

Neben dem Ringen um die Zulassung als Heilpraktiker sieht Ippig inzwischen eine Perspektive im Trainerdasein. In Malente arbeitet er derzeit am Erwerb der Trainerlizenz. „Man braucht hier für alles einen Schein. Ohne ist man so gut wie scheintot.“ Trotzdem: Seine Beziehung zum Fußball und zum FC St. Pauli, lange Zeit schwächelnd, hat Volker Ippig geklärt. „Alles, was ich bin, bin ich durch den Fußball geworden.“

In Lensahn, in der Kreisklasse, hat er als Mittelfeldspieler vor kurzem seinen ersten Saisontreffer geköpft. Die Wehwehchen im Team kuriert er mit homöopathischen Mitteln: Bei Prellungen jede Stunde sechs Globuli Arnika, direkt unter die Zunge.

Daß er beim FC St. Pauli wieder Strategien der Torverhinderung verfolgt, würde Ippig wohl Bestimmung nennen. „Mein Herz schlägt eher links, sozial und gemeinschaftlich. Das ist auch nach wie vor das große Kapital des FC St. Pauli.“ Kein Zweifel, Volker aus „dem Winkel“, wie die Landschaft um Lensahn genannt wird, hört wieder die Signale.