■ Wird Ehud Barak den Friedensprozeß wiederbeleben können? Ein Gespräch mit dem israelischen Historiker Dani Gutwein
: Keine Demokratie ohne Sozialstaat

taz: Der enorme Wahlerfolg von Ehud Barak zeigt, daß sich das traditionelle Wahlverhalten in Israel radikal verändert hat. Womit erklären Sie das?

Dani Gutwein: Was Sie sagen, ist richtig und nicht richtig. Die Wahlen 1996 standen sehr stark unter dem Eindruck von explodierenden Autobussen und Terroranschlägen. Daher die Unsicherheit damals, daher der Mangel an Vertrauen in den Friedensprozeß. Trotzdem war der Unterschied zwischen den beiden damaligen Kandidaten, Netanjahu und Peres, minimal.

Bei dieser Wahl lautete hingegen die Frage: Wollen wir eine europäische Gesellschaft oder eine jugoslawische? Daß Netanjahu sich immer öfter an Primakow wandte, war durchaus kein Zufall. Baraks Konzept steht dem von Netanjahu hundertprozentig entgegen. Barak orientiert sich an Jitzhak Rabin und Bill Clinton. Dazu gehört, eine Politik wiederzubeleben, die die Errichtung eines Sozialstaates und den Frieden will.

Netanjahu hingegen hat den Friedensprozeß eingefroren – und damit auch die nationale Wirtschaft demoliert. Und letztendlich hat Netanjahu genau damit traditionell konservative Gruppen zum Umdenken gebracht.

Kann der Schaden, den Netanjahu angerichtet hat, überhaupt so schnell wiedergutgemacht werden?

Diese Gesellschaft hat ein Problem. Sie muß neu aufgebaut werden, und zwar auf der Basis universalistischer Werte. Indikator für unser gesellschaftliches Problem ist der Erfolg der ultraorthodoxen sephardischen Schas-Bewegung. Der Aufstieg der Schas hat direkt mit wirtschaftlicher Not und dem Fehlen eines Sozialstaates zu tun. Schas sprang überall dort ein, wo der Staat versagte. Aber das ist ein kurzfristiger Prozeß. Der Schaden ist reparabel, und das wird keine Generationen dauern. Wir – also die, die ihre Stimme Barak gegeben haben – können jetzt mit den notwendigen Veränderungen anfangen: Frieden und Investitionen in Erziehung und Infrastruktur.

Die Wahl wirft auch die Frage auf: Hin zum moderaten Regierungschef und gleichzeitig eine Radikalisierung in der Knesset, wenn man sich die Erfolge der Schas einerseits und des antireligiösen Tommi Lapid von der Partei Schinui ansieht?

Die Erfolge von Schas und Schinui sind die unmittelbare Antwort auf Netanjahus Hetze. Die Schinui ist ein Phänomen der Wut darüber, daß die öffentlichen Gelder immer nur in Richtung der Orthodoxen fließen, anstatt gerecht verteilt zu werden. Abgesehen davon ist Tommi Lapid ein Ultranationalist mit überaus abstoßenden Anschauungen. Aber weder die Schas noch die Schinui werden ewig im Parlament bleiben. Die richtigen Investitionen am richtigen Ort und natürlich der Friedensprozeß werden sie aufhalten. Ich bin fest davon überzeugt, daß das zu machen ist. Der Radikalismus ist temporär.

Ist der Wahlsieg von Tommi Lapid nicht auch Ausdruck der Sorge vor einer wachsenden orthodoxen Übermacht, die die Demokratie kaputtmachen will?

Demokratie kann nicht existieren, wo es keine soziale Gerechtigkeit gibt. Im übrigen ist die Schas nicht deshalb so stark, weil die orthodoxe Bevölkerung gewachsen ist. Die meisten Wähler der Bewegung sind selbst überhaupt nicht orthodox. Es geht nicht darum, daß mit der Schas nun die orthodoxe Bevölkerung prozentual angemessen im Parlament vertreten ist. Im Gegenteil: Es gibt eine Überrepräsentation. Aber auch das ist wieder rückgängig zu machen.

Aber die Schas, eine unverkennbar undemokratische Partei, ist nun drittstärkste Partei. Ist bei der Erziehung zu einem demokratischen Bewußtsein etwas verpaßt worden?

Darüber muß man sich gar nicht wundern. Israel hat, von kurzen Pausen abgesehen, seit 1977 rechte Regierungen – Netanjahu war das grande finale. Demokratisches Bewußtsein war in diesen Jahren nicht unbedingt das wichtigste Thema.

Warum sind Sie so sicher, daß mit Barak alles besser wird?

Netanjahu hat den Schaden angerichtet. Also muß es auch eine Politik geben, die den Schaden repariert. Man kann es anders machen. Baraks Konzept ist auf Stufen ausgerichtet. Nichts geht von heute auf morgen. Seine größte Aufgabe ist es, Liberalismus und Demokratie gesellschaftlich zu verändern. Die Wahl hat gezeigt, daß es ein Potential dafür gibt. Es ging jetzt nicht mehr um links oder rechts, sondern darum, die Gesellschaft neu zu gestalten.

Warum soll ausgerechnet Barak das gelingen?

Barak hat seine Fähigkeiten schon unter Beweis gestellt, als er seine Partei , die nach der Wahlniederlage 1996 völlig am Boden lag, wieder aufbaute.

... indem er viele der alten Parteigenossen einfach vor die Tür setzte.

Die Arbeitspartei war damals anders nicht zu retten. Dort saßen die Bürokraten seit Jahrzehnten und waren zum Umdenken schon kaum noch in der Lage. Alles war auf links und rechts ausgerichtet. Barak hat außerdem die Grenzen der Arbeitspartei gesprengt mit seiner Liste „Ein Israel“, in der auch moderate religiöse Partner sitzen. „Ein Israel“ ist ein Ort, wo sich viele Gruppen treffen. Wir wissen noch wenig über Barak. Mein bisheriger Eindruck ist aber, daß er die Verbindung von Politik und Gesellschaft verstanden hat.

Welche Regierungskoalition halten Sie für die beste?

Wenn Israel den Frieden vorantreiben will, muß eine breite Mehrheit in der Regierung vertreten sein. Wer genau das sein wird, ist noch nicht klar. Barak hat die Absicht erklärt, auch mit dem rechten Lager zu verhandeln.

Offenbar ist sogar eine Koalition mit den National-Religiösen nicht ausgeschlossen. Welche Chancen kann so ein Bündnis haben?

Barak tut gut daran, jede mögliche Konstellation zu prüfen. Die National-Religiösen von heute sind nicht die, die sie früher einmal waren. Entscheidend ist, auf welche Bedingungen man sich einigt. Wenn die National-Religiösen Oslo anerkennen und einen Frieden mit Syrien wollen – gut. Die Macht der Führung ist, Veränderungen herbeizuführen auch in politischen Haltungen. Die Situation ändert sich ständig. Vor einigen Jahren wollte niemand auch nur über die Golanhöhen reden – inzwischen ist Konsens, daß ein Frieden mit Syrien seinen Preis hat und es sinnvoll ist, ihn auch zu bezahlen.

Was halten Sie von Baraks Äußerung hinsichtlich der Unteilbarkeit Jerusalems?

Ich glaube, daß man auch dieses Problem lösen kann, wenn beide Völker die jeweils andere Schmerzgrenze akzeptieren. Wenn das gegeben ist, dann wird die Frage Teilung oder Nichtteilung letztendlich keine Rolle spielen.

Halten Sie Baraks Versprechen, vor der Unterzeichnung einer Endstatus-Vereinbarung ein Referendum abzuhalten, für seriös?

Die Entscheidung über die endgültige Situation zwischen Israel und den Palästinensern kann unmöglich von einer knappen Mehrheit getroffen werden. Barak will mit dem Referendum ein Moment eines Konsens schaffen. Referendum bedeutet nichts anderes, als daß es kein Diktat einer Minderheit geben wird. Interview: Susanne Knaul

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