Lebende Partituren

■ „Voila, voila“ von der vietnamesischen Choreographin Ea Solo im Hebbeltheater

Mitten im Stück beginnt ein großes Dorfpalaver. Zuerst fallen die sieben Tänzerinnen und Sängerinnen aus ihren Rollen und scheinen mit vertrauten Geistern zu reden. Dann springen die acht Musiker, die bis dahin mit ihren Trommeln und Drehleiern am Bühnenrand saßen, auf und mischen sich ein. Kaum einer im Zuschauerraum des Hebbeltheaters versteht auch nur ein Wort vietnamesisch: So nimmt man dieses Orchester der aufgeregten Stimmen als Teil der Musik. Seine Emotionalität ist ansteckend, und als kurz darauf oben auf der Bühne alle zu lachen beginnen, freut sich auch das Publikum.

„Voila, voila“ von der vietnamesischen Komponistin und Choreographin Ea Sola, ist ein einfaches und ein kompliziertes Stück zugleich für uns in Berlin. Kompliziert, weil der Zuschauer, der vorher vorsichtshalber im Programmheft über Ea Solas Ausgrabungen von Liedern, Mythen, Rhythmen, ländlichen und höfischen Musik-Traditionen aus der viertausendjährigen Geschichte Vietnams gelesen hat, nun zu Recht befürchtet, zu wenig verstehen zu können. Einfach, weil man diese Angst vergessen und sich dem dichten Gewebe der lyrischen Stimmungen und dramatischen Bilder hingeben kann.

Ea Sola, die als Zwölfjährige mit ihrer Mutter Vietnam verließ, lebt seit 1978 in Paris. Sie fand Anschluß an eine Gruppe von Performance- und Konzeptkünstlern noch bevor es ihr selbst um das Kunstmachen ging; einfach durch ihre Versuche, sich der Anpassung zu entziehen und herauszufinden „warum bin ich hier, was ging mir voraus.“

Als sie Anfang der neunziger Jahre aus Paris nach Vietnam zurückkehrte, beschäftigte sie die Suche nach einer Kultur, die die Zerstörungen des Krieges im Gedächtnis der Körper überlebt hatte. Sie entdeckte in den dörflichen Musiktraditionen „lebende Partituren“, seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben. Für ihr erstes Stück über diesen versteckten Reichtum arbeitete sie mit alten Frauen zusammen, die noch die Tänze ihrer Dörfer erlernt hatten, bevor der Krieg das Tanzen vergessen ließ.

In der westlichen Kultur ist es noch nicht lange her, daß man die „oral history“ als notwendige Korrektur des schriftlich fixierten Herrschaftswissens zu fördern sucht. Deshalb wächst die Aufmerksamkeit und der Respekt gegenüber den Kulturen, in denen die mündliche Überlieferung von Mythen, Poesie und Liedern Jahrtausende weit zurückreicht. Aus dieser Perspektive arbeitet Ea Sola. Doch gegen volkstümelnden Exotismus verwahrt sie sich durch den strengen Maßstab des Minimalismus. Ihre Stücke folgen weniger einer Fiktion von Authentizität als vielmehr einer (Re-)Konstruktion von Vergangenheit, die sich bewußt ist, daß ihre Fragen aus der Gegenwart kommen.

„Voila, voila“ beginnt mit dem Lied einer alten Frau. Oft sind die Sängerinnen zugleich Tänzerinnen, die sich in ihren langgezogenen Tönen wiegen und wie in Spiralen eindrehen. Geometrisch strenge und ritualisierte Bewegungspartituren werden unterbrochen von wedelnden Fingern und scharf durch die Luft stechenden Handgesten, die wie Stromstöße in den ruhigen Energiefluß fahren.

Nach und nach verschwinden die geometrisch bemalten Stoffbahnen, die von der Decke hingen und anfangs sowohl als ordnende Elemente im Raum als auch als Labyrinth von den Tänzerinnen interpretiert wurden. Am Ende hingegen gewähren ihnen keine äußeren Strukturen mehr Halt. Was bleibt, ist der Klang, in dem sich immer mehr unterschiedliche Rhythmen und Stimmen verschränken. Katrin Bettina Müller

Bis 22. Mai, ab 20 Uhr, Hebbeltheater, Stresemannstr. 29