Bahn im Visier der Ermittler

Fraunhofer-Institut legt Abschlußbericht über das Eschede-Unglück vor: Vorhandene Radüberprüfungs-Techniken wurden nicht eingesetzt  ■   Aus Hannover Jürgen Voges

Versäumnisse oder Fehler der Deutschen Bahn bei der Zulassung gummigefederter Räder für ICE-Züge im Jahre 1992 sind nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Lüneburg wahrscheinlich Ursache der Katastrophe von Eschede, durch die im Juni vergangenen Jahres 101 Reisende starben und über hundert schwer verletzt wurden. Ein vorläufiges Gutachten des Darmstädter Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit, das im Auftrag der Staatsanwaltschaft den bei dem Unglück gebrochen Radreifen untersucht hat, schließt jetzt einen Material- oder Herstellungsfehler aus.

Laut Gutachten sei vielmehr „eine zu hohe Betriebsbeanspruchung“ des Reifens verantwortlich, teilte die Lüneburger Staatsanwaltschaft gestern mit. Durch das Abfahren der Reifen hätten die Spannungen im Inneren zugenommen, so daß schließlich die ertragbare Last überschritten worden sei. Ein Ermüdungsbruch sei die Folge gewesen.

Nach Angaben des Sprechers der Lüneburger Staatsanwaltschaft, Jürgen Wigger, kommt das Gutachten des Fraunhofer-Instituts zu dem Schluß, daß bereits die Zulassung der gummigefederten Radreifen im August 1992 „nicht dem damaligen Stand der Technik enstprach“, weil anerkannte Sicherheitsregeln nicht beachtet wurden. „Räder dieses Typs hätten entweder nicht angebracht werden dürfen oder sie hätten nicht bis zu einem Betriebsgrenzmaß von 854 Millimeter Durchmesser heruntergefahren werden dürfen. Es sei denn, auch das Innere des Rades wäre regelmäßig gewartet worden“, faßte Oberstaatsanwalt Wigger gestern die Kritik der Gutachter zusammen.

Fest steht, daß es Techniken, mit denen auch Risse im Inneren der Räder zu erkennen waren, auch schon 1992 gab. Diese seien aber nicht eingesetzt worden, so Wigger. Dem Gutachten zufolge gab es bereits vor dem Unfall Hinweise auf Defekte an dem Radreifen. So hätten ab Mai letzten Jahres Zugbegleiter mehrfach ein unruhiges Laufverhalten des Drehgestells mit dem Unglücksrad bemerkt. Tage vor dem Unfall seien außerdem Unrundheiten an dem Radreifen festgestellt worden, dessen Durchmesser allerdings noch knapp über dem Betriebsgrenzmaß lag.

Die Staatslanwaltschaft Lüneburg will nun die „Abläufe, Entscheidungen und Verantwortlichkeiten bei der Zulassung der gummigefederten Räder“ rekonstruieren. Zuständig für die Zulassung war damals das Mindener Eisenbahnzentralamt, ein Betrieb der Bahn. Außerdem will sie prüfen, wer an der Spitze der Bahn seinerzeit für den Bau der Räder verantwortlich war.