Arbeitstier mit Argusaugen

■  Die frühere Berliner Umweltsenatorin Michaele Schreyer gilt als chancenreiche Anwärterin auf den ersten grünen EU-Kommissions-Posten. Vor der Ernennung stehen noch einige Unwägbarkeiten.

oi, toi, toi!“ ruft eine grüne Abgeordnete auf den Fluren des Parlaments ihrer Fraktionschefin Michaele Schreyer zu. Die winkt beschwichtigend ab. Noch ist nichts entschieden. Doch gilt die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin als aussichtsreiche Kandidatin für einen EU-Kommissions-Posten. Um so mehr, seit das Bundeskabinett in dieser Woche beschloß, bei EU-Präsident Romano Prodi Anspruch auf das Schlüsselressort Wirtschaft und Finanzen zu erheben. Damit sind die Chancen für die 47jährige Finanzexpertin beträchtlich gestiegen.

Doch Michaele Schreyer, die als Umweltsenatorin des rot-grünen Senats 1989/90 bundesweit bekannt wurde, weiß, daß vor ihrer Ernennung noch einige Unwägbarkeiten stehen. „Imponderabilien“, wie sie sagt. Sie ist trotz allem gut gelaunt. Keine Spur der Verärgerung, daß die Parteiführung ihren Namen hinausposaunt hat, noch bevor sich die Grünen auf eine Person festgelegt haben. Erst nach der Europawahl am 13. Juni soll eine Kandidatin nominiert werden. Denn eine der Unwägbarkeiten ist das grüne Wahlergebnis. Sollte die Partei an der Fünfprozenthürde scheitern, können die Grünen den Kommissionsposten „getrost vergessen“, stellte Sprecherin Antje Radcke fest. Zum anderen muß die Kandidatin noch die Zustimmung von EU-Präsident Prodi finden und vom EU-Parlament gewählt werden. An Schreyers Qualifikation dürfte es jedoch kaum einen Zweifel geben.

Als Haushaltspolitikerin, die mit Argusaugen über die Haushaltslöcher und Privatisierungsprojekte der Berliner Großen Koalition wacht, hat sich Schreyer in den letzten Jahren viel Anerkennung verschafft. Sie ist ein Arbeitstier. Sie sitzt im Haushalts- und im Vermögensausschuß des hochverschuldeten Bundeslandes, derzeit bestreitet sie den dritten Untersuchungsausschuß zu einem dubiosen Grundstücksgeschäft der Landesregierung. Schreyer hat jedes Detail parat. Für ihre messerscharfen, den komplizierten Sachverhalt sezierenden Fragen ist sie gefürchtet. Schreyer genießt allseits Respekt, doch die Sympathien fliegen der Frau, die stets professionelle Distanz wahrt, nicht unbedingt zu.

Schreyer, deren Ambitionen auf ein Amt in der EU-Kommission seit längerem bekannt waren, gibt sich trotz des Schwebezustandes gelassen. „Es absorbiert viel Zeit“, sagt sie über die Spekulationen. Die stets souveräne und effiziente Reala konzentriert sich daher auf die unmittelbar anstehenden Fragen. Am Morgen hat sie den Konsortialvertrag für die Privatisierung des Großflughafens Schönefeld durchgeackert – er umfaßt zwölf Aktenordner.

Für manchen wäre die Arbeit im Haushaltsausschuß ein Strafkommando. Schreyer widmet sich der drögen Materie „lustvoll“. Ein „Knochenjob“ ist es, räumt sie ein, doch auch ein „lohnendes Feld“.

Schreyer, die acht lange Jahre auf der Oppositionsbank sitzt, hat sich 1991 völlig neu in die Haushaltspolitik eingearbeitet. Längst hat sie sich als Gegenspielerin von SPD-Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing profiliert. Der linke SPD-Flügel verfolgt mit Schrecken, daß Schreyer angesichts des Schuldenberges der Stadt auf eine noch konsequentere Sparpolitik drängt als die eiserne Lady der SPD.

Als Berliner Umweltsenatorin scheute Schreyer keinen Konflikt. So verweigerte sie dem Forschungsreaktor des Hahn-Meitner-Instituts die Betriebsgenehmigung – eine Entscheidung, die nach dem Scheitern der rot-grünen Koalition allerdings revidiert wurde.

Mehr Erfolg hatte sie mit einer Intervention bei den Wettbewerbshütern der Europäischen Union: Weil Daimler-Benz den Potsdamer Platz zum Schnäppchenpreis erstanden hatte, mußte der Automobilikonzern 33 Millionen Mark an das Land nachzahlen.

Dennoch gehört Schreyer zu den bürgerlichen Erscheinungen bei den Grünen. Nie wurde sie im Schlabberpulli oder anderen Geschmacklosigkeiten gesichtet.

Als Tochter einer Kölner Bankangestellten und eines Lokführers ist Schreyer in bescheidenen Verhältnissen, aber „mit vielen Freiräumen“ aufgewachsen. Sie studierte in Köln Wirtschaftswissenschaften und wurde durch die Frauenbewegung politisiert.

Zu den Grünen stieß sie 1983 als wissenschaftliche Mitarbeiterin der ersten Bundestagsfraktion. An den ersten Konzepten einer Ökosteuerreform und einem Modell der sozialen Grundsicherung hat sie damals maßgeblich mitgearbeitet. Parteimitglied wurde sie erst 1987, als sie an das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München wechselte.

Im relativ linken Berliner Landesverband hat Schreyer als Vertreterin des Realo-Flügels keinen leichten Stand. Ihr Kurs der Haushaltskonsolidierung wird inzwischen breit getragen. Doch bei der Nominierung der Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl im Herbst unterlag sie kürzlich deutlich der Ko-Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und belegt nun Platz zwei der Landesliste. Falls eine Imponderabilie sie auf dem Weg nach Brüssel noch aus der Zielgerade werfen sollte, gilt sie in einer rot-grünen Koalition als aussichtsreiche Kandidatin für einen Senatsposten. Dorothee Winden