■ Der subventionierte Niedriglohn wird als Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit gehandelt. Die soziale Realität sieht anders aus
: Nach unten treten

„(Fast) Jede Arbeit ist besser als gar keine“, sagen die Wissenschaftler Wolfgang Streeck und Rolf Heinze. Die beiden haben das Konzept für den Niedriglohnsektor entwickelt, das demnächst beim Bündnis für Arbeit diskutiert wird. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Regierung ist damit an einem Kern- und Konfliktpunkt angekommen. Die flächendeckende Durchsetzung des Billiglohns könnte später als eine entscheidende Reform gelten und als positiver wie negativer Wendepunkt der Bilanz nach dem ersten Regierungsjahr.

Die beiden sind Professoren mit Weitblick. Aber ihr Vorstellungsvermögen für die soziale Realität? Sätze, wie der eben zitierte, stammen von Leuten, die 10.000 Mark im Monat verdienen und sich keine Sorgen machen müssen. Die Sicherheit und Selbstbestimmung, die ihre eigene Arbeit für sie bedeuten, die Bestätigung, die sie aus ihr empfangen, dichten sie in andere Jobs hinein – egal wie mies sie auch sein mögen.

Die beiden können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, was es heißt, eine Stelle annehmen zu müssen, die den Tag mit Schufterei anfüllt, ohne das Arbeitstier zu ernähren. Niedriglohn heißt zum Beispiel Kisten schleppen im Lager einer Spedition für 5,60 Mark pro Stunde – ein Lohn, wie er schon Ende der 70er Jahre gezahlt wurde. 45 Mark am Tag, 225 pro Woche, 900 im Monat. Die Wissenschaftler sollten mal nachfragen bei Leuten, die froh sind, zwei Tage krankgeschrieben zu werden, weil sie den Rücken nicht mehr gerade kriegen. Zwölf Stunden am Tag Stückgut auf den LKW wuchten, Graffities von Eisenbahnwaggons kratzen, im Imbiß stehen – fast jede Arbeit ist besser als gar keine?

Stellen wir uns einen Handwerksmeister vor, dessen Betrieb pleiteging. Vorher verdiente er 4.000 Mark brutto, plus Überstunden. Nun ist er arbeitslos. Niedriglohn würde für ihn heißen, daß er bei einem privaten Pflegedienst anheuert und Rollstühle schiebt, wofür er 1.800 Mark bekommt, von denen er 1.000 für die Miete sofort wieder ausgibt. Gerne fabuliert man über das Selbstwertgefühl, das eigener Hände Arbeit mit sich bringe. Was mag der Handwerksmeister dazu sagen, wenn sein Gehalt nicht mehr dazu reicht, die Familie zu ernähren? Sicher, die Frau kann ja auch noch... Die Frauenerwerbsquote muß sowieso gesteigert werden, damit die Familien im unteren Bereich der Einkommensskala durchkommen. Aber mit einer zufriedenstellenden Lebensgeschichte haben derartige Verhältnisse nichts zu tun.

Vor allem im Dienstleistungsbereich sollen sich die neuen Billigjobs ansiedeln. Das klingt gut: nach sauberen Schreibtischen, Kundennähe und freundlichen Verhandlungen über das Mobiltelefon. Im Dienstleistungssektor gibt es viele gute Stellen, aber auch einen Haufen Scheißjobs: Leute, die Fußmappen vor den Banken und Geschäften auswechseln, Leute, die an den Fließbändern des Dualen Systems Metallreste zwischen madigen Schnitzeln und Gemüseresten hervorklauben.

Der Niedriglohnsektor bricht diametral mit den bisherigen Vorstellungen von sozialer Absicherung. Sicher: Bodo Hombach, der Spiritus Rektor der Idee im Kanzleramt, stellt in Aussicht, daß die Billigjobber nicht aus dem Sozialsystem herausfallen, denn der Staat könnte ihre Beiträge für Rente und Krankenversicherung bezahlen. Trotzdem gerät die Vorstellung von der relativen Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse – gegenüber Ostdeutschland wird sie noch als hehres Ziel propagiert – nun unter die Räder. Bislang ging man davon aus, daß eine Person nur einen Job braucht, um sich Waschmaschine, Auto und Wohnung leisten zu können. Dem ist im Niedriglohnsektor nicht mehr so. Der Wert der Arbeitskraft sinkt, also muß die Zahl der Jobs pro Person steigen. Da 1.000 oder 1.500 Mark nicht reichen, entsteht für eine Schicht von working poor der Zwang zum Zweit- oder Drittjob.

Die Niedriglohnsektor beinhaltet eine bodenlose Ungerechtigkeit. Er setzt bei denen an, die sich nicht wehren können, weil sie quasi jedes Angebot akzeptieren müssen. Arbeitslose, Sozialhilfempfänger, Leute mit schlechter Ausbildung – denen sagt man: Ihr bekommt noch viel zu viel, gebt was ab. Es ist zu Eurem eigenen Nutzen, wenn Ihr morgens den einen und abends den anderen Job macht.

Gewiß, die Sache entbehrt nicht der ökonomischen Logik. Neue, kleine Dienstleistungsfirmen verdienen oft weniger Geld und ihre Produktivitätssteigerung kann nicht im entferntesten mit den Fortschritten im industriellen Sektor standhalten. Deshalb fallen die Löhne dort oft geringer aus. Außerdem scheinen Länder wie USA, Dänemark und Holland vorzumachen, daß gerade in den unteren Lohngruppen der Dienstleistungsfirmen viele Jobs geschaffen wurden. Das ist die positive Nachricht, die sich mit dem Niedriglohnsektor verknüpfen dürfte.

Daran kommt man nicht vorbei. Und doch macht diese Lösung erstaunen ob ihrer Dreistigkeit. Die Risikogesellschaft verteilt ihr Risiko höchst einseitig – sie lädt es in erster Linie bei denen ab, die schon unten sind. Auf der anderen, sonnigen Hälfte der Lohnskala besteht die Anstrengung darin, sich durch lebenslanges Lernen auf dem Markt zu behaupten, von 10.000 Mark nicht auf 8.000 im Monat abzurutschen, und die Aktien rechtzeitig anzustoßen, bevor der Kurs in den Keller geht.

Es ist mittlerweile nicht mehr so, daß eine dunkle Clique von Unternehmern und Politikern sich ein derartiges Rezept ausdenkt, und die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Kopf schüttelte. Nein, es entspricht den Machtverhältnissen: Die Masse der Arbeitenden hat beim Thema „Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich“ mehrmals dankend abgelehnt. Und die Gewerkschaften, die sich heute weigern, über den Niedriglohnsektor zu sprechen, um ihn morgen zu akzeptieren, haben ihn gestern mit ihrer Politik der Besitzstandswahrung erst möglich gemacht. Daß die wirklich Reichen, die Großaktionäre, Konzernvorstände und Leitenden Angestellten angesichts des geringeren Wachstumstempos den materiellen Wohlstand nicht wie früher teilen wollen, kann nicht verwundern. Für bundesrepublikanische Verhältnisse neu erscheint aber, daß der arbeitende Mittelstand, um seine Einkommen zu verteidigen, der Entstehung eines neuen Dienstleistungsproletariats zustimmt. Dies ist auch eine Bedeutung des Begriffs „Neue Mitte“.

Wenn oben und unten gleichermaßen gespart würde, könnte man dem Konzept noch etwas abgewinnen. Da dem nicht so ist, muß man sagen: Viele Arbeiten sind besser, als gar keine. Aber längst nicht alle. Im Vergleich zu einem Billigjob kann Arbeitslosengeld auch ganz angenehm sein. Hannes Koch

Jede Arbeit ist besser als keine – wer das sagt, weiß nicht, wovon er redet

Auch die Besitzstandwahrung der Gewerkschaften ist schuld an der Misere