Der tröstende Pensionär

Am Sonntag ist Bundespräsidentenwahl. Johannes Rau ist geduldig wartender und erwarteter Favorit für das höchste Amt im Staate. Mit ihm wird die Republik noch schöner, denn der Sozialdemokrat ist wie Tchibos beste Bohne, mit dem Versöhnungsmotiv als Verwöhnaroma, ein Mann für die ganze Familie  ■ Von
Heinrich Pachl

Ich plädiere für Johannes Rau. Ihn soll man zum Bundespräsidenten wählen, denn er hat es sich verdient, und wir haben ihn verdient. Das meine ich trotz einiger Bedenken, aber nach reiflicher Überlegung. Vater war Wuppertaler Wanderprediger, er selbst dann lange 20 Jahre Dampfplauderer in Düsseldorf. Man kann es nicht mehr hören, liest es aber immer wieder und wieder, es steht einem schon bis oben, über diese lebende Collage aus Legenden und Anekdoten, an denen er selbst reichlich mitgestrickt hat.

Bruder Johannes – eine leibhaftige Bündelung von so vielen, die auf dem Weg zur Inkarnation seit einiger Zeit am Ziel angekommen sind und seither auf der Stelle treten, vergleichbar mit den vielen anderen, die auf den Fluren des Arbeitsamtes auf die Zuteilung eines Schaffensplatzes warten.

Ein Zwischenpensionär im Wartestand, der sich, seit ihn sein Ziehsohn Brutus Clement sanft, aber zäh aus dem Landesvateramt gemeuchelt hat, als Wehmutsbruder mit rasant beschleunigtem Zerfallsdatum dermaßen öffentlich nach Repräsentationsaufgaben, Terminen und Fahrern sehnt, daß die Presse dem Stimmungsdruck erliegt und Schwachsinn titelt: „Der richtige Mann zur falschen Zeit“ – was uns alle anderen, die wir im Heute leben, ins Unrecht setzt. Geduld, Bruder Johannes, möchte man ihm zurufen und ihm die eigenen Zitate um die Ohren hauen: Wenn die Partei das Amt versprochen hat, muß sie es auch halten, denn ein gebrochenes Versprechen ist ein gesprochenes Verbrechen. Aber es geht nicht um Schnelligkeit der Schritte, sondern um die Richtigkeit der Richtung. Und ein jegliches hat seine Zeit, und so der Herr will, wollen wir dies nicht tun und das andere auch fein seinlassen.

Aber was derzeit über Rau geschrieben wird, von seinen Sprüchen zitiert wird, das sind nur die Vorboten dessen, was kommt, wenn er es dann endlich geworden sein wird. Dann wird er selbst auspacken, ausbreiten, amüsierend unterhalten, besinnlich machen. Nicht mehr nur für die paar Privilegierten, die ihn bislang persönlich im direkten Kontakt erleben durften und uns von dort verkündeten, daß er im direkten Kontakt doch noch ganz anders wirkt und tatsächlich der feine Mensch ist, den er in der Öffentlichkeit so perfekt darstellen kann.

Da kommt einer auf uns zu, der mit allen Wassern gewaschen ist und von der Pike auf gelernt hat, die Enttäuschten zu trösten, die Hoffnungslosen hinzuhalten, die Wütenden zu ermüden und die Müden zu ermutigen. Rein rhetorisch wird er alle seine Vorgänger im höchsten Staatsamt abhängen. Denn Rau ist Charismatiker par excellence.

O ja. Denn Charisma, das ist Strahlkraft, ist die Fähigkeit, eine Masse von Menschen zu begeistern und sie dahin zu bringen, daß sie sie sich eine Weile wie Idioten verhalten. Und: Bei Rau geht das ohne Erpressung, Drohung, Unterdrückung – nur mit leichter örtlicher Betäubung. Eine Mischung wie Tchibos beste Bohne, mit dem Versöhnungsmotiv als Verwöhnaroma. Eine Überkreuzmutation von Knappenchor, Hans Albers und Pater Leppich, mit kleinen Erinnerungen schelmisch angerührt, durch eine Prise Witz verschmitzt und auf einem ausgereizten Skatblatt mit einem schaumgekrönten Wuppertaler Pils im volltönend angerauhten Bariton serviert: Ein Prosit der Gemütlichkeit! Das aber auf ziemlich anspruchsvollem und besinnlichem Niveau. Mehr kann man kaum wollen.

Dieser Mann lebt nicht nur ganz vital in der Gegenwart seiner Kinder, die „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Marienhof“ und „Verbotene Liebe“ gucken und mit ihm darüber heftig diskutieren, er wurzelt an der Großvatergrenze auch in der jüngeren deutschen Geschichte. „Wir haben dieses Land“, hat er einmal über sein sein nordrhein-westfälisches Stammgestaltungsgebiet gesagt, „nicht von den Vätern des Grundgesetzes geerbt, sondern nur von der Neuen Heimat gepachtet.“ Mit dieser damals noch gegenwartsfähigen Kern-Erkenntnis ist er mir, als es um Siedlungsabriß, Kahlschlagsanierung, Plutoniumreaktor und Autobahntrassen Marke „Friesenspieß“ ging, als starkes Stück Deutschland aufgefallen und auf den Wekker gegangen.

Irgendwas stimmte nicht mit dem Mann, irgendwas war widersprüchlich.

Den schnellen Brüter etwa hat er zuerst als Landesvater aufgebaut und dann als Landesvater abgerissen. Warum dieser Gesinnungswandel so spät, nach dermaßen ungeheurer Geldverschwendung und eiskaltem Kraftaufwand, um Einspruch zu zermürben und Protest niederknüppeln zu lassen? Weil sich Rau nicht von Erkenntnissen leiten läßt, denn der Mensch kann irren, sondern von Erfahrungen, und die schickt das Schicksal, was dann schon eher stutzig macht, wie seinerzeit Tschernobyl. Da war man Zeitgenosse, wie der GAU in seiner Oszillation zwischen größtem anzunehmendem Unfall und größtmöglich anzustrebendem Umsatz zum Brüter einer Erkenntnis über politische Gestaltungskraft wurde, für die sich der Aufwand lohnte. Viele Gewählte und Politiker können sich die Dinge immer erst dann vorstellen, nachdem sie sie erlebt haben. Das hat doch, wenn wir die Anwendung der Kriegskunst in Jugoslawien nehmen, an Stringenz und Aktualität nichts eingebüßt. Darin sehe ich also eine ganz, ganz wichtige Voraussetzung im Anforderungsprofil des Bundespräsidentenamtes erfüllt, und was in der aktiven Politik widersprüchlich wirkte, ist jetzt am richtigen Platz.

Eine andere Anforderung ist die Würde dieses hohen Amtes, und auch hier bietet Rau die besten Voraussetzungen. Würde fällt einem ja nicht in den Schoß, wird einem auch nicht geschenkt, sie kommt vielmehr durch das Verarbeiten von Leid und Verstrickung zustande. Barocke Typen wie Strauß oder Schlitzohren wie Bangemann oder Graf Lambsdorff hätten doch nie die nötige keim- und sündenfreie Aura für die Nachfolge von Heuß, Heinemann und Herzog. Politik ist bekanntlich ein schmutziges Geschäft, und wer es so lange betreibt wie Rau ...

Auch in der Regierung Nordrhein-Westfalens gab und gibt es Skandale. Aber wie man sich viele Politiker nicht beim Lieben vorstellen kann (und will), so kann man sich bei Rau nur schlecht ausmalen, wie er an politischen Schweinereien beteiligt ist. Was uns da schwerfällt, macht seine Qualität aus und ergibt sich aus der gewieften Kombination vom Landesvater Rau und dem System Rau.

Das soll am konkreten Beispiel der thermischen Müllentsorgung, einer der größten Schweinereien und Geldschneidereien in diesem unserem Land, kurz erläutert werden. Im starken Stück Deutschland vergreift man sich nicht wie anderswo am Geld anderer Leute. Das ist als Verfahren zu primitiv und im Ergebnis popelig. Man bricht auch keine Gesetze, sondern man schafft sie und verordnet dem Bürger ihre Durchführung. Eben das Gesetz für die thermische Müllentsorgung, das vom Kabinett Rau ausging und zum Boom überdimensionierter Müllverbrennungen führte. So kommt man an das Geld aller Leute. Das macht nicht Rau, das läßt er machen, und wer sich dabei verstrickt und schuldig werden sollte, den läßt er nicht im Stich, sondern steht hinter ihm, und das adelt ihn. Wie Wasser bei 95 Grad zu Dampf wird, entmaterialisiert sich der Schmutz der Politik bei Rau, er wird frei von allem, was ihm an Übeln angehängt werden könnte, und entschwebt weit sichtbar im Zeppelin seiner Worthülsen, während die Bürger unten an den Folgen leiden. Wenn das keine Kunst ist.

Und dann gibt es da noch einen guten Grund, Rau zu wählen: Die Kunst des Echos. In den letzten Wochen wird landauf und landab kolportiert, wie Rau mit der unbedachten Frage eines Schulmädchens konfrontiert wurde: „Warum gerade Sie als Bundespräsident?“, und darauf antwortete: „ Man hat mich gefragt, da muß man sich doch gedacht haben, ich wäre der Richtige.“ Da war das Kind platt. Wie ich auch. Wie viele. So einfach, so schlicht, so falsch und verlogen und doch nicht gelogen. Das schaffen nur die wirklichen Könner. Das Volk ist der Wald, der Politiker das Echo, und so wie es herausschallt, muß man hineingerufen haben, denn Politik ist die Kunst, sich dem Echo an die Spitze zu setzen.

Auch das ist Rau nicht in den Schoß gefallen. Als Kanzlerkandidat gegen Kohl hat er 1987 darauf gesetzt, die absolute Mehrheit zu erringen, weil er den Einflüsterungen Hombachs glaubte, der große Kommunikator zu sein, der, wie zuvor Reagan in Amerika, durch seine Personality erdrutschartige Pendelausschläge zuwege bringen könnte.

Das wurde bekanntlich nichts, was aber nicht an Rau, sondern einerseits am Wähler und andererseits am Unglauben der eigenen Parteispitze in der Bonner Baracke lag. Also die richtigen Lehren ziehen, indem man die Wähler durch das Wahlgremium ersetzt und die Partei durch ihr schlechtes Gewissen bindet. Dann wird das Präsidentenamt zur nicht nachweisbaren Pfründe, die die Kunst des Echos erhalten kann und dem fragenden Schulkind ein Märchen erzählt.

Vom Landesvater zum Bundespräsidenten ist der Schritt vom Gestalter zum Verwalter, vom Vorstand in den Aufsichtsrat, von der Immunität des Volksvertreters zum Apotheker für Immunmittel. Als hochqualifizierter Erfahrungsverarbeiter bringt also Rau für das höchste Staatsamt gerade in unseren Zeiten, wo die friedliebenden Seelen vom Flächenbrand heimgesucht werden, eine ganz wichtige Voraussetzung: Er findet Worte, die Wunden heilen, Umbrüche verkleben, Widersprüche annehmbar machen, Versagen in Schicksal wickeln und die Last der Mitverantwortung für Kollateralschäden mit Bibelsprüchen erträglich machen. Und das sagt er ja auch: Gräben zuschütten und Grenzen ihren Charakter rauben sei die Melodie seines Handelns.

Also die Menschen zuquatschen und die Wirklichkeit schönfälschen. Ehrlicher kann man kaum sein Programm ankündigen, und da soll hinterher niemand kommen und sagen, er hätte nicht gewußt, wer uns da ins höchste Amt gehievt werden soll: Ein Wortpflasterer, ein Salbader von der Erbarmer Ersatzkasse, der mit Bibelsprüchen Erste Hilfe leistet und uns die globalisierte Welt verwuppertalt und einheimelt in die Überschaubarkeit von Skatblatt, Pils und Schnittchen.

Ich selbst habe auch aus der Enntfernung des Normalverbrauchers von Politikern viel gelernt. Von Strauß einiges in Latein: Principiis obsta! Pacta sunt servanda! Von Rau aber kompakte Krisenbewältigung und konkrete Lebenshilfe. Am meisten haben mich die Sprüche beeindruckt: Es geht doch nicht darum, ob wir beschissen werden oder nicht, sondern wie wir damit leben können. Und: Wer nicht in der Lage ist, sich selbst zu belügen, hat auch nicht die sittliche Reife, andere zu verarschen. Die sind zwar nicht von Rau, aber er hat dazu inspiriert, weswegen ich auch ein Stückchen persönlicher Dankesschuld abgetragen sähe, wenn er endlich gewählt würde.

Als einzige Alternative käme nur die Mitwahl von Uta Ranke-Heinemann in Frage, die sich als Kaninchen selber aus dem Hut gezaubert hat, was es selten auf der Polit-Bühne gibt und Achtung verdient. Da Frau Ranke-Heinemann die Tochter des Onkels der Gattin von Johannes Rau ist und Rau der Schwager ihres Vetters, also sehr enge Verwandtschaftsbande existieren, wäre es ohnehin nur eine Wahl, und man sollte überlegen, ob nicht beide als Bundespräsident und Bundespräsidentin amtieren könnten, die zurückhaltende Frau Rau wäre von Repräsentationspflichten entlastet, könnte Frau Schipanksi trösten, und was Frau Heinemann durch verhöhnen spaltet, könnte Bruder Johannes wieder versöhnen, da hat er was zu tun, und wir hätten alle was davon.

Heinrich Pachl, 55, Kabarettist und Filmemacher, lebt in Köln.

Die Menschen zuquatschen und die Wirklichkeit schönfälschen. Ehrlicher kann man kaum sein Programm ankündigen

Wie Wasser bei 95 Grad zu Dampf wird, entmaterialisiert sich der Schmutz der Politik bei Johannes Rau

Heinemann und Rau wären das ideale Paar. Was sie durch verhöhnen spaltet, könnte Bruder Johannes wieder versöhnen