Ulcinj fürchtet den Kollaps

Ulcinj, die südlichste Stadt Montenegros, ist mehrheitlich albanisch besiedelt. Deshalb haben sich viele Albaner aus dem Kosovo hierhergerettet. Heute gibt es in der Stadt, die bis zum Ausbruch des Krieges hauptsächlich von Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft lebte, mehr Flüchtlinge als Einwohner.  ■ Von Thomas Schmid

Mit einer Flotte, die zu ihren besten Zeiten aus stattlichen 400 Segelschiffen bestand, war Ulcinj über 300 Jahre lang der Hauptstützpunkt des Osmanischen Reiches an der Adria. Die schwer befestigte Zitadelle der letzten Stadt Montenegros vor der albanischen Grenze zeugt noch heute von der heroischen Vergangenheit – wenn sie auch stark gezeichnet ist von dem Erdbeben, das 1979 viele Orte der montenegrinischen Küste in Trümmer gelegt hat.

Ragip Bushati erinnert sich noch gut an das tektonische Desaster. Seine kleine Pension fiel damals wie ein Kartenhaus zusammen. Aber längst ist sie aus den Ruinen auferstanden, doppelt so groß und schöner denn je. Von seinem Restaurant aus, hoch oben über der alten Mauer der Zitadelle, hat man einen bezaubernden Blick auf die Bucht mit ihrem kristallklaren Wasser. „Damals“, sagt Bushati und meint die Zeit, als es das alte Jugoslawien des Marschalls Tito noch gab, „wußte hier niemand, wie der Präsident von Montenegro hieß, Politik spielte keine Rolle, und ich habe mit meiner Segelyacht an manchen Tagen tausend Mark verdient, hier wurde fast nur deutsch gesprochen.“

Ragip Bushatis Pension ist zwar heute bis aufs letzte Zimmer belegt, aber die Gäste bringen kein Geld, im Gegenteil. Es sind 33 albanische Flüchtlinge aus dem Kosovo, die meisten aus Pec, ihr Essen kaufen sie selbst und kochen es in den Zimmern, für Strom und Wasser muß der Gastgeber aufkommen, für die Unterkunft zahlt niemand. Das montenegrinische Flüchtlingskommissariat habe zwar jenen, die mindestens 20 Vertriebene beherbergen, zweieinhalb Mark pro Gast und pro Nacht zugesagt, sagt Bushati. Aber erhalten habe er trotz dreimaliger Nachfrage keinen Pfennig.

„Die Stadt platzt aus allen Nähten“, jammert Skender Hoxha, der Bürgermeister von Ulcinj, „und niemand hilft uns.“ Auf 25.000 Einwohner, zu 83 Prozent Albaner, kommen 40.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo, die zu 90 Prozent bei Familien untergekommen sind. Die Solidarität unter den Albanern scheint keine Grenzen zu kennen. Aber wie lange kann das noch gut gehen? Die Salzfabrik ist geschlossen, und der Tourismus, der die ganze Stadt ernährt hat, ist völlig zum Erliegen gekommen. Letztes Jahr, berichtet der oberste Bürger der Stadt, habe das Gemeindebudget noch 20 Millionen Dinar – umgerechnet zwei Millionen Mark – betragen, dieses Jahr müsse er sich mit der Hälfte begnügen. Die Stadt hat kein Geld, um die Straßenreinigung zu bezahlen, die kommunalen Angestellten haben seit zwei Monaten schon keinen Lohn gesehen.

Der Kollaps komme spätestens in drei Monaten, behauptet Nusret. Der frühere Student der Veterinärmedizin, ein Kosovo-Albaner, der sein Studium in Zagreb abbrach, als Kroatien 1991 unabhängig wurde und er als frischgebackener Ausländer 5.700 Mark Studiengebühr pro Jahr hätte bezahlen müssen, wedelt mit einem Bündel von Dinar-Scheinen. Vor drei Wochen ist er in Ulcinj angekommen. Nun steht er an der Mauer und wechselt Geld: 1.070 Dinar für den Hundertmarkschein. Beim Schwarzmarkthändler, für den er arbeitet, wird er dafür 1.090 Dinar erhalten. Täglich schafft er einen Reingewinn von 70 bis 100 Dinar. Im Monat kommen so etwa 250 Mark zusammen. Das ist immerhin doppelt so viel wie ein Angestellter im öffentlichen Dienst erhalten würde, wenn die Gemeinde das Geld hätte, ihn auszubezahlen.

Nusret hat für sich und seine Frau für 300 Mark eine Zweizimmerwohnung gemietet. Noch kann er sie von seinen Ersparnissen bezahlen. In drei Monaten, wenn die Stadt nach seinen Berechnungen kollabiert und auch sein Sparstrumpf leer ist, will er ins Kosovo zurück. Er hofft auf Apache-Hubschrauber und Bodentruppen.

Auf dem Campingplatz „Bratstvo i Jedinstvo“ (Brüderlichkeit und Einheit) verbrachten früher jedes Jahr Tausende Familien ihre Ferien. Er liegt in einem lichten Laubwald direkt am Meer. Nun sind die Wohnwagen voll von Flüchtlingen und überall stehen große Zelte, errichtet vom Arbeiter-Samariterbund und der Schweizer Auslandshilfe. Vom nahen Wald prescht ein Auto über die unbefestigte Straße herbei. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht: Gerade sind zwei Flüchtlinge ertrunken, ein 15jähriger Junge und ein 28jähriger Mann, der diesen retten wollte. Sie hätten beide zum ersten Mal im Leben das Meer gesehen, sagen die Leute.

Nora, eine junge Frau aus Pritina, kennt viele Flüchtlinge im Lager. Sie arbeitet als Übersetzerin für eine ausländische Hilfsorganisation. Eine Woche nach Beginn der Bombardierungen floh sie aus der Hauptstadt des Kosovo, versteckte sich drei Tage in einer Schlucht, wartete weitere drei Tage vergeblich an der Grenze, weil die makedonischen Zöllner sie nicht reinließen, trat den Rückweg an, erhielt völlig ausgehungert von der jugoslawischen Armee schließlich ein bißchen Brot, mußte sich dabei aber filmen lassen. Schließlich fand sie sich in Pritina wieder. Zehn Tage lang blieb sie in der Stadt, in der es von Soldaten, Polizisten und Paramilitärs wimmelte, dann fuhr sie mit dem Bus nach Montenegro.

Nun ist sie also gerettet. Ab und zu gelingt es ihr, mit ihren Eltern zu telefonieren, die in Pritina zurückgeblieben sind. Von den 250.000 Albanern seien noch etwa 80.000 in der Stadt, vermutet sie, ebenso viele wie Serben. „Es gibt schlimmere Geschichten als meine“, sagt Nora. „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen eine Frau, die Ihnen erzählen wird, daß sie gesehen hat, wie in Pec zwei Mädchen aus Angst vor Vergewaltigung aus dem dritten Stock eines Hotels gesprungen sind.“

Die 17jährige Vjosa ist mit Vater, Mutter, drei Schwestern und einem Bruder vor wenigen Stunden direkt aus Mitrovica, einer mittelgroßen Stadt im Norden des Kosovo, eingetroffen. Neben albanisch und serbisch spricht sie auch türkisch, englisch und spanisch. Die ganze Stadt, Zehntausende, vielleicht über hunderttausend, hätten sich gemeinsam auf die Flucht gen Süden gemacht, um Albanien zu erreichen, erzählt sie. Aber nur wer ein Auto oder einen Traktor hatte, sei rausgekommen. Die anderen, die Mehrheit, sei nach vier Tagen Fußmarsch bei Djakovica gestoppt und zur Umkehr gezwungen worden.

Unterwegs seien fünf Alte gestorben und einige Kinder geboren worden. Fünf Tage lang hätten sie dann bei Klina gelagert, bevor sie in ihre völlig abgebrannte Heimatstadt zurückgekehrt seien. „Nur der Stadtteil Tavnik war noch intakt“, berichtet Vjosa, „in zehn Tagen haben wir in acht verschiedenen Wohnungen gelebt. Dann kamen Soldaten und drohten, uns zu erschießen. Für hundert Mark erhielten wir eine Fahrkarte nach Podgorica.“ Für Serben kostet die Fahrt von Mitrovica in die montenegrinische Hauptstadt umgerechnet zehn Mark.

„Sie sind alle vor den Nato-Bomben geflohen“, behauptet Milo Cetkovic, örtlicher Präsident der SNP, der Partei, die Miloevic hörig und in Montenegro in der Opposition ist, im freundlichsten Ton und bietet einen Losa, einen Traubenschnaps, an. Wie bitte? Lügen die denn ausnahmslos alle? „Jüngst wollte eine Gruppe Albaner ins Kosovo zurückkehren, aber sie traute sich dann doch nicht – wegen der Bomben“, sagt der Politiker. „Serbien hat ihnen übrigens, bevor die Nato angriff, mehr Autonomie angeboten, als sie je hatten.“ – „Mehr als vor der Abschaffung der Autonomie durch Miloevic 1989?“ – „Die Autonomie des Kosovo wurde nie aufgehoben.“ – „Ach, so.“ Ob der Politiker glaubt, daß man ihm glaubt? Ich glaube, daß er glaubt, ich glaube ihm. Und er glaubt wohl, daß ich glaube, er glaube, ich glaube ihm. Und so weiter. Wir verabschieden uns freundlich, ein Dankeschön für den Schnaps.

Eigentlich bräuchte in Ulcinj kein Flüchtling in den Zelten zu leben. Die großen staatlichen Hotels stehen alle leer und sind geschlossen: das „Belleville“ mit rund tausend Betten, das „Lido“ und das „Mediterran“ mit je 500 Betten, das „Galeb“ mit 350 Betten. Nur das „Albatros“ mit seinen 320 Betten ist offen. Die meisten Zimmer haben einen großen Balkon zum Meer hin. Die Lage ist paradiesisch. 60 Angestellte betreuen sechs Gäste. „Vor dem Kriegsbeginn in Jugoslawien“, sagt Bayram, der Mann in Livree hinter dem Tresen an der Rezeption, und meint vor dem Sommer 1991, als in Slowenien und dann in Kroatien die Kämpfe ausbrachen, „hatten wir sieben Monate lang alle Zimmer belegt, vor allem mit Touristen von Tui und Neckermann.“

Bayram freut sich, nach all den langen Jahren wieder eine Gelegenheit zu haben, sein Deutsch aufzufrischen. Bis zum vorletzten Jahr, sagt er, seien wenigstens im Juli und August zahlreiche Albaner aus dem Kosovo gekommen. Sie kamen hierher, weil Ulcinj eine albanische Stadt ist, während die Serben eher die montenegrinischen Küstenstädte Kotor und Budva bevorzugten, wo serbisch gesprochen wird. Schon im letzten Sommer fielen die Kosovaren wegen der Kämpfe aus.

Die Regierung biete umgerechnet zweieinhalb Mark pro Flüchtling und Tag, behauptet Bayram, damit könnten nicht einmal Strom und Wasser bezahlt werden. „Außerdem können Sie sich sicher vorstellen, wie die Zimmer aussehen würden, wenn die mal ein paar Monate hier hausen.“ Nein, der Mann hat nichts gegen die Albaner, er ist selber einer und hat schon seit acht Monaten sechs Flüchtlinge bei sich zu Hause. Fünf Mark verlange die Hoteldirektion, aber der Bürgermeister Skender Hoxha habe geantwortet, dies übersteige die finanziellen Möglichkeiten der Regierung. Ein Mitarbeiter einer humanitären Organisation wiederum meint, der Bürgermeister selbst wolle gar nicht, daß die Flüchtlinge aus den Zelten in die Hotels kämen, weil alle an den Kosovo-Albanern verdienen würden. Zwar kämen einige bei Verwandten umsonst unter, manche aber würden für ihre Bleibe bezahlen. Viele Einwohner von Ulcinj würden hoffen, einen zahlungswilligen Gast auf dem Campingplatz zu finden. Auch nur 50 Mark im Monat sind hier in diesen Zeiten viel Geld.

Ulcinj, die traditionsreiche Stadt im äußersten Süden Montenegros, mit ihrer wechselhaften Geschichte, mit ihren neun Moscheen und drei Kirchen, zwei orthodox und eine katholisch, steht vor dem Kollaps. Das sagen hier alle. Sie produziert nichts, und es kommen keine Touristen. Das war auch in früheren Jahrhunderten so. Doch damals hatte sie Einnahmequellen, die längst versiegt sind. Ulcinj lebte von der Seeräuberei.

Nachdem die Türken 1571 die Stadt erobert und die Venezianer vertrieben hatten, siedelten sie 400 algerische Piraten an, die vor allem Handelsschiffe ausplünderten. Mit Geldern aus der erbeuteten Kriegskasse der Seerepublik Venedig wurde im 17. Jahrhundert eine Moschee errichtet. Bis ins 18. Jahrhundert war Ulcinj ein gefährliches Seeräubernest. Die Piraten gründeten in Ulcinj auch einen Sklavenmarkt. Damals verschleppte ein Kapitän namens Selim Shurla auf seinem Schiff „Gloria“ eine Gruppe Schwarzafrikaner nach Ulcinj. 1878, zur Zeit des Berliner Kongresses, der Ulcinj endgültig Montenegro zuschlug, waren hundert Häuser der Stadt von Schwarzen bewohnt. Sie tanzten ihren Sharaveli, einen afrikanischen Tanz, und führten ein Restaurant mit afrikanischer Küche.

Heute leben nur noch vier Schwarze oder Dzani, wie die Nachkommen der schwarzen Sklaven sich nennen, in Ulcinj, alle aus der Familie des 77jährigen Riza Shurla, der in der Innenstadt ein Fotogeschäft unterhält. Er sei Montenegriner, spreche serbisch und albanisch, sagt der alte Mann und lächelt milde, jedenfalls aber sei er Mohammedaner. Nein, nicht Muslime wie die Albaner, sondern Mohammedaner, denn die Muslime seien ja nur islamisierte Christen. Riza Shurla freut sich, daß sich jemand für die Geschichte der Schwarzen von Ulcinj interessiert, wo doch alle Welt nur von Serben und Albanern spricht.

Gerade sind zwei Flüchtlinge ertrunken, ein 15jähriger und ein 28jähriger Mann. Sie hatten zum ersten Mal im Leben das Meer gesehen