„Das ist doch alles Nato-Propaganda“

Keiner weiß wirklich, wie viele Deserteure es in der jugoslawischen Armee gibt und ob sie nur als Waffe im Informationskrieg eingesetzt werden. Asyl für „Fahnenflüchtige“ gefordert  ■   Von Volker Weidermann

Die Anzahl der Deserteure in der jugoslawischen Armee ist völlig unklar. Die Zahl von 40.000, die Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) genannt hatte, scheint jedoch nach Angaben verschiedener Flüchtlingsorganisationen erheblich zu hoch zu sein.

Rudi Friedrich von connection e.V., einer Organisation zur Unterstützung von Verweigerern aus Kriegsgebieten, hält diese Schätzungen für weit übertrieben. „Die Zahlen der Deserteure sind immer so hoch, wie die Nato sie braucht“, sagt er. Das bestätigt auch Momir Stobic, der sich vor neun Jahren selbst der Rekrutierung durch die jugoslawische Armee entzog und seitdem von niederländischen Exil aus Deserteure unterstützt. Nach seinen Informationen hat seit Kriegsbeginn kein Mann zwischen 16 und 50 Jahren Jugoslawien verlassen können. Auch illegal käme man nicht raus. Es gebe zur Zeit faktisch keine Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern.

Stobic sieht aber auch – anders als im Westen in den letzten Tagen verbreitet – die Motivation zur Desertation schwinden. Nach zwei Monaten Bombardement und den vermehrten Nato-Angriffen auf zivile Ziele seien auch Anti-Miloevic-Aktivisten mehr und mehr zum Kampf gegen die Nato bereit. „Desertion steht da überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Das ist Nato-Propaganda“, sagt er.

Die Nato selbst schweigt sich zu konkreten Zahlen aus. Man spricht vorsichtig von „einigen tausend vielleicht“, aber man wolle „Herrn Minister Scharping selbstverständlich nicht in die Parade fahren“, so der Nato-Sprecher Bungarten.

Währenddessen hat der Europaabgeordnete Christof Tannert (SPD) seine Initiative erneuert, in der er alle Mitgliedsstaaten der EU auffordert, Desertation als Asylgrund anzuerkennen. Er fordert außerdem, daß die Regierungen jugoslawische Soldaten zur Desertation aufrufen sollten. Nach Tannerts Meinung sollte mit sofortiger Wirkung ein „EU-Unterstützungsprogramm für Deserteure“ eingeführt werden.

Tannert bedauert, daß er bei seinen Parteifreunden in Bonn kaum Bewegung in dieser Richtung sehe. In Deutschland gilt, wie in anderen EU-Staaten auch, Desertation immer noch nur dann als Asylgrund, wenn man eine politische Motivation nachweisen kann.

Mit einigen Europa-, Landes- und Bundestagsabgeordneten der SPD wird Tannert jedoch am Wochenende einen Verein zur Unterstützung der serbischen Opposition gründen. Seiner Schätzung nach sind es schon jetzt wesentlich mehr Deserteure als die von Scharping genannten 40.000.

Auch über die möglichen Strafen für Deserteure besteht Unklarheit. Die einzigen Fälle von Verurteilugen, die Rudi Friedrich bislang bekannt wurden, sind Verurteilungen zu fünf Jahren in der nordserbischen Stadt Novi Sad. Gesetzlich seien zwischen zehn und 20 Jahren vorgesehen. Die Todesstrafe sei dagegen, anders als verschiedentlich berichtet, gesetzlich nicht vorgesehen.