... am Ende nicht wenig

■ Weder Staat noch Zivilgesellschaft – Die Bundesrepublik wird fünfzig

Zweifel sind zwar erlaubt, aber unangebracht. Seit dem Eintritt der Deutschen in die Moderne, also seit dem napoleonischen Zeitalter, hatten sie keinen Staat, der so erfolgreich war wie die (alte und die neue) Bundesrepublik. Soviel institutionalisierte Freiheit, soziale Sicherheit und materiellen Wohlstand konnten bisher weder Kaiserreich, Weimarer Republik noch die DDR vorweisen. Im Blick auf die ganze deutsche Geschichte ist auch die neu wiedervereinigte Bundesrepublik ein Glücksfall.

Verläßt man freilich diesen eher anspruchslosen nationalen Maßstab, bietet sich ein anderes Bild. Dann zeigt sich, daß die Republik den Kriterien eines aufgeklärten demokratischen Gemeinwesens kaum genügt und sich unlustig um sich selbst dreht. Auf jeden Fall sind all die Aufgaben, die sie sich in ihrem Jubiliäumsjahr gestellt hat, verschoben und vertagt, ihre Reformimpulse versandet. Die Republik zeigt sich unschlüssig, zögerlich – so als ob sie die Chancen des Neuen nicht wirklich ergreifen wolle.

Die von vielen als Durchbruch zu einem nicht völkischen, wahrhaft republikanischen Gemeinwesen erhoffte Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, die Selbstanerkennung als Einwanderungsgesellschaft, fiel halbherzig und unpraktikabel aus. So sehr die längst überfällige Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts von 1913 zu begrüßen ist, so deutlich sind die doch xenophoben Vorbehalte, die neuerdings mit dem paternalistischen Schlagwort von der „Integration“ daherkommen. Zu den Halbherzigkeiten gehört auch, daß der oft blutige Fremdenhaß in Ostdeutschland schon gar nicht mehr benannt werden darf.

Die Auseinandersetzung mit historischer Schuld und kollektiver Verantwortung im Zuge der geplanten Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas ist in unwürdigem Gezänk, parlamentarischem Finassieren und überschlauen Geschäfts- und Verfahrensdebatten hängengeblieben. Selbst wenn ein Mahnmal errichtet werden sollte, wird es dank seiner Entstehungsbedingungen nicht mehr das sein, als was es geplant war.

Schließlich: Das von allen gesellschaftlichen Kräften von rechts bis links angestrebte Beheben des übereinstimmend festgestellten Reformstaus im Bereich Altersversorgung, der Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik, der Umwelt- und Bildungspolitik wird zur ständigen, weder einlösbaren noch auch nur beginnenden Zukunftsverheißung.

Zugleich löst sich die klassische Staatlichkeit der Bundesrepublik Schritt für Schritt auf. Das ist politisch durchaus gewollt. Die Preisgabe der inneren Souveränität durch EU-Verträge und Euro, die institutionelle Delegation der Finanzpolitik an die Europäische Zentralbank nehmen der Politik Einflußchancen, ohne daß diesen Verlusten „in Europa“ ein Ausgleich erwachsen wäre. Daß von äußerer Souveränität auch im vereinigten Deutschland keine Rede sein kann, hat spätestens die Teilnahme der Republik am Kosovo-Krieg – egal, wie man zu ihm steht – bewiesen. Wenn zutrifft, was regierungsnahe Quellen glaubwürdig versichern – daß die neugewählte Regierung Fischer/Schröder in einer Viertelstunde über die Teilnahme am Krieg zu befinden hatte –, sagt das mehr als jedes staatstheoretische Seminar. Zu mehr als zur verhängnisvollen Anerkennung Kroatiens hat die neue deutsche außenpolitische Mündigkeit nie gereicht.

Dem schleichenden Verlust an innerer und äußerer Staatlichkeit entspricht jedoch kein zivilgesellschaftlicher Aufbruch. Daß die BürgerInnen, selbstbewußt und reich an finanziellem und sozialem Kapital, wetteifern, dem Gemeinwesen ihr Bestes zu geben und seine schwächsten Mitglieder zu schützen – davon kann keine Rede sein. Daran ändern auch die Hunderttausenden nichts, die in Seniorenklubs, Jugendarbeit und Vereinen aufopferungsvoll ihren Ehrenämtern nachgehen.

Vor mehr als 15 Jahren war unter Politikwissenschaftlern eine Debatte modern, die die Unregierbarkeit westlich-parlamentarischer Demokratien beklagte. Über diese Debatte ist die Zeit hinweggegangen. Die Klage über die Unregierbarkeit setzte wenigstens noch den Willen der Regierung voraus, ihre Ideen in Gesetzen und Budgets durchzusetzen. Heute gilt als politisch und sozialwissenschaftlich aufgeklärt, wer solche Ansprüche erst gar nicht mehr erhebt. Nicht nur die soziologische Systemtheorie hat festgestellt, daß die Resonanzen, die das Subsystem Politik in anderen Subsystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft und Recht provoziert, vernachlässigt werden können. Das bestätigt schon die schlichteste Zeitungslektüre, davon zeugt jede angekündigte, dann aber zurückgenommene Gesetzesänderung. Einsicht zeigt daher, wer vom Subsystem der Politik nicht mehr fordert, als auffällig werdende gesellschaftliche Reibungen zu moderieren oder quasitherapeutisch zu begleiten. Nicht umsonst fordert die neueste politische Soziologie den „Supervisionsstaat“.

In diesem Gewande tritt zeitgemäß das auf, was den Erfolg der Bundesrepublik seit den Fünfzigern ausmacht: ihr neokorporatistisches System, in dem große, von niemandem gewählte institutionelle Blökke wie Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Kirchen ihre Präferenzen aushandeln. Rot-Grün ist zudem gelungen, was noch nicht einmal die alte sozialliberale Koalition mit ihrer „konzertierten Aktion“ vermochte: den Korporatismus im „Bündnis zur Arbeit“ zu einer kompletten Nebenregierung mit Arbeitsgruppen, ausdifferenzierten Expertenzirkeln und regelrechten Verfahren auszubauen, zu einer Institution, deren Imperative die gewählten Parlamente nur noch zu vollziehen haben. Wer sich dem – warum auch immer – nicht fügt, gilt als „unmodern“ und wird äußersten Falls wie Oskar Lafontaine einfach weggemobbt.

Mit dem Dahinschwinden von (demokratischer) Staatlichkeit hier und dem Ausbleiben eines zivilgesellschaftlichen Aufbruchs dort wird die klassische, noch Karl Marx inspirierende Dialektik von „bourgeois“ und „citoyen“ hinfällig. Wenn aber die Menschen im Deutschland der Jahrtausendwende weder „bourgeois“ noch „citoyens“ sind, was sind sie dann? Ihres sozialen Geschicks sind sie weder Herrin noch Herr, den Glauben an eine wesentliche Veränderbarkeit der Verhältnisse haben sie längst aufgegeben. Die Gesellschaft, in der sie leben, bietet so viele Freiheitsspielräume und soziale Garantien wie keine andere zuvor. Innerlichkeit ist ihre Sache nicht. Deshalb ist es auch verfehlt, von einem neuen Biedermeier zu reden.

Gleichwohl: Wer fremdbestimmt lebt und Umständen oder Mächten ausgesetzt ist, die er (oder sie) nicht verändern kann, unterliegt der Herrschaft und ist – Untertan! Das ist kein Anlaß zu Apokalyptik oder Alarmismus. Denn das bundesdeutsche Gemeinwesen, in dem diese Untertanen leben, erweist sich weder als das „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“, das Max Weber fürchtete, noch als die „eindimensionale Welt“, die Herbert Marcuse attackierte, sondern als watteweiches Gebilde, das nur noch „Standort“ sein will.

Daran ändert auch der Kosovo-Krieg nichts. Das Land präsentiert sich in seinem fünfzigsten Jahr als eine eher freiheitliche Gesellschaft abgeklärter, mißmutiger und räsonierender Untertanen, die sich von allem utopischen Überschwang befreit und ihre Republik wohlwollend akzeptiert haben.

Das kann man täglich in Berlin beobachten. Die Art und Weise, wie Hauptstädter und Touristen in langen Schlangen geduldig wartend ihr künftiges Parlamentsgebäude aufsuchen, den neuen Reichstag, spricht Bände. Das Volk huldigt einem ihm gewidmeten architektonischen Ensemble, das den alten wilhelminischen Bau mit einer lichtdurchfluteten, transparenten und begehbaren, aber garantiert undurchdringlichen Kuppel krönt.

Wo Regierung und Parlament – sieht man von ihrem in der Tat glänzenden Schein ab – an Faszination verloren haben, binden endlich ein aufgeklärtes Verfassungsgericht sowie immer authentischere und zivilere Präsidenten die verbliebenen Legitimitätswünsche. Das ist für eine Nation, die 1871 mit Blut und Eisen als autoritärer Sozialstaat gegründet wurde, später Europa in Schutt und Asche legte und ein menschheitsgeschichtlich einmaliges Verbrechen beging und deren kleinerer Teil vierzig Jahre lang einen stacheldrahtbewehrten Wohlfahrtsstaat ge- und ertragen hat, am Ende nicht wenig. Man gratuliert. Micha Brumlik

Der Autor ist Publizist, Professor für Erziehungswissenschaften, grüner Abgeordneter im Frankfurter Römer. Er schreibt regelmäßig für die taz.