Hexenmeister der Tasten

■ Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin gab bei Radio Bremen einen seiner wenigen Deutschland-Auftritte

„Das ist kein Mensch, das ist ein Roboter“, meinte ein Zuhörer und ein anderer: „Das sind die geklonten Hände von Horowitz“. Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin provozierte diese staunenden Bemerkungen im ausverkauften Konzertsaal von Radio Bremen, so wie er es schon vor sechs Jahren im damals schlecht besuchten Konzert in der Galerie Katrin Rabus getan hatte. Der 1961 geborene Pianist ist vielleicht tatsächlich der – einzige – legitime Nachfolger des – nach Artur Rubinstein – größten Virtuosen in diesem Jahrhundert: Vladimir Horowitz, dessen Liszt- und Rachmaninow-Aufnahmen legendär geworden sind. Haben wir aber den Begriff einer grenzenlosen Virtuosität bislang mit diesen Namen verbunden, vielleicht noch Prokofieff und Skrjabin dazugenommen, so konfrontiert uns Hamelin mit einem absolut unbekannten Repertoire. Aber das ist nicht der Grund, warum er es spielt, sagt er in einem Interview. Vielmehr verdienen es die kostbaren Kompositionen eines Medtners und Kapustins, aufgeführt zu werden.

Deswegen gefällt Hamelin das Image des reinen Virtuosen, der aus instrumentaler Technik so eine Art Hochleistungssport macht, nicht – wogegen sich übrigens auch schon Horowitz gewehrt hat. Aber warum dann diese virtuositätslüsternen Programme? Hatte er 1993 das als unspielbar geltende „Konzert für Soloklavier“ des französischen Sonderlings und Chopin-Freundes Charles Valentin Alkan (1813-1888) auf uns herabgedonnert, so verblüffte er diesesmal seine ZuhörerInnen mit dessen „Grande Sonate – Les quatre ages“.

Wenn ein Kenner wie der große, seinerseits monumentale Pianist Feruccio Busoni sagte, die Stücke von Alkan seien „die größten Errungenschaften der Klaviermusik seit Liszt“, so ist es schon ein Geschenk, derartiges live kennenzulernen. Vom ersten Satz „Très vite“, der das Lebensalter von zwanzig Jahren repräsentiert, bis zum letzten Satz „Extrêmement lent“ (50 Jahre) faszinierte Hamelin durch donnernde Klangfülle ohne jedes Forcieren, gestochene Architekturen und glasklare Transparenz. So manch einer kommt von solchen Schwierigkeitsgraden nicht mehr zurück: nicht so Hamelin, der mit einer energetischen Ökonomie ohnengleichen unmittelbar in die wunderbarste Lyrik verfallen konnte, die in diesem Werk an Robert Schumann und Johannes Brahms erinnert.

Es sind überragende Pianisten, die so komponieren, wie auch der Deutschrusse Nicolaj Medtner (1879-1951), dessen „Sonata romantica“ – geschrieben 1930, was uns der Programmzettel ruhig hätte verraten dürfen – Hamelin interpretierte. Der Pianist verblüffte wiederum mit scheinbar anstrengunsloser hochvirtuoser, dichtgewobener Satztechnik, wobei er auch hier keinesfalls versäumte, einen klangfarblich vielseitigen und erzählerischen Stil zu entwickeln.

So etwas wie Bewegung kam in Hamelins Körper erst – und auch das nur ansatzweise – in der jazzorientierten Klaviersonate op. 54 von Nikolaj Kapustin. Mit Ausnahme der Jazz-Elemente ist kaum zu glauben, daß dies ein Stück aus dem Jahr 1989 ist, eher handelt es sich um eine Neuauflage einer donnernden spätromantischen Klaviersonate. Doch die Musik hat Charme und ist mit der technischen Kompetenz von Hamelin allemal zu genießen.

Die Gefahr, daß sich eine Kluft auftun könnte zwischen technisch-pianistischer Gewalt und musikalisch-interpretatorischer Harmlosigkeit, ist bei Hamelin schon da. Aber er weiß darum, und deswegen sollte er ruhig Programme mit besserer, aber einfacher zu spielender Musik durchmischen.

Gleichwohl gab dieser hochinteressante Klavierabend auch zu bedenken, ob nicht zur kompositorischen Aussage immer auch die extremen Möglichkeiten des Instrumentes gehören, was allerdings mit den kargen, späten Werken von Franz Liszt verneint wird. Wie geradezu inbrünstig Hamelin Lyrik zu gestalten weiß, zeigte er an seiner vierten Zugabe mit einem Andante von John Field.

Ute Schalz-Laurenze