„Die Linke formiert sich neu“

■  Die grüne Fraktionsvorsitzende Renate Künast fordert, Friedenspolitik in den Mittelpunkt des Europawahlkampfes zu rücken: „Wer sich zurückzieht oder nicht wählt, schadet sich selbst“

taz: Frau Künast, drei Bezirksgruppen wollen nach dem Parteitagsbeschluß zum Kosovo-Krieg keinen Europawahlkampf machen. Wie stark gefährdet das den Wahlkampf der Grünen?

Renate Künast: Wenn Kreisverbände solche Beschlüsse fassen, wird es noch schwerer, als es wegen des Kosovo-Krieges ohnehin schon ist. Wir können nur hoffen, daß endlich der Waffenstillstand kommt und die diplomatischen Bemühungen Erfolg haben. Wir müssen mit den Grünen in den Kreisverbänden reden, und zwar darüber, was sie sich selbst damit antun. Sie schwächen womöglich die Position der KriegsgegnerInnen im Europaparlament.

Die Kreuzberger Bezirksgruppe sieht sich außerstande, einen Europawahlkampf führen. Sie macht statt dessen eine Anti-Krieg-Kampagne.

Man kann aber auch eine Anti-Krieg-Kampagne machen und trotzdem Europawahlkampf oder gerade wegen des Kriegs Wahlkampf machen. Wer glaubt, er könne sich jetzt aus der Europapolitik verabschieden, weil das unbedeutend sei, begeht einen großen Fehler. Europapolitik wird bedeutender. Das Europaparlament wird gestärkt. Der Amsterdamer Vertrag sieht außerdem den Einstieg in eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union vor. Die deutschen Grünen müssen stark im Europäischen Parlament vertreten sein, sonst nutzt es denjenigen, die genau die Außen- und Sicherheitspolitik machen, die die Kreuzberger verhindern wollen. Ich verstehe die Emotionen. Aber wer sich jetzt aus dem Wahlkampf zurückzieht oder nicht wählen geht, schadet sich am Ende selbst.

Wie hoch werden die Verluste der Grünen bei der Europawahl?

Mit zehn Prozent wie bei der letzten Europawahl können wir nicht mehr rechnen. Das war ein absolutes Hoch. Der Kosovo-Krieg wird uns zweifellos Stimmen kosten. Deshalb müssen wir den Krieg und die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zum Gegenstand des Wahlkampfs machen, ebenso wie die Frage, was der Krieg für die Osterweiterung Europas bedeutet. Insofern hoffe ich auch, daß wir uns mit den Kreuzbergern und anderen zusammenfinden. Auch die Kreuzberger müßten sagen, wir wollen Ilka Schröder, die einen Aufruf gegen den Krieg inititiert hat, im Europaparlament sehen. Das wollen wir nicht gefährden.

Wie kann ein grüner Wahlkampf im Schatten des Kosovo-Krieges überhaupt aussehen?

Da brauchen wir uns gar nichts vormachen. Wir müssen die Friedenspolitik in den Mittelpunkt rücken. Dabei gibt es wichtige, für Europa neue Fragen, wie die Gleichstellungs-, die Beschäftigungspolitik oder den Einstieg in eine Europäische Grundrechtscharta. Da werden in den nächsten vier Jahren entscheidende Weichen gestellt. Ich kann nur warnen, die Europapolitik zu vernachlässigen, dann werden wirnicht unser blaues, aber unser europäisches Wunder erleben. Aber ich fürchte, das wird niemand hören wollen. Deshalb muß sich weit mehr als die Hälfte des Wahlkampfs um die Auseinandersetzung mit dem Kosovo-Krieg drehen. Wir werden dazu Veranstaltungen und Diskussionen anbieten.

Wie schätzen Sie die Folgen des Kosovo-Beschlusses der Bundesdelegiertenkonferenz für den Berliner Landesverband ein ?

Es entwickelt sich etwas Neues. Ich wage jetzt nicht zu prognostizieren, wie und was das genau sein wird. Klar ist aber, daß diejenigen, die beim Parteitag für ein sofortiges Ende der Nato-Angriffe waren, sich neu formieren. Sie sind sich der 40 Prozent, die hinter diesem Antrag standen, bewußt und werden viel mehr mit einer Stimme sprechen – zumindest eine Zeitlang. Ich weiß andererseits, daß sie in vielen anderen Politikfeldern nicht immer einer Meinung sind. Die Frage ist, bildet sich da eine Konstruktion, die wirklich tragfähig ist. Man wird diese Stimme aber mehr hören.

Wird es doch noch eine Absetzbewegung der Linken geben?

Ich glaube nicht an eine Spaltung der Grünen, weil ich sehe, daß sich viele in die Partei hinein orientieren. Sie sagen sich, eine Alternative gibt es nicht, und es macht keinen Sinn, etwas ganz Neues aufzubauen. Teile der grünen Linken waren in den letzten Jahren komplett desorganisiert. Vielleicht werden sie jetzt wieder zu einer beachtenswerten Größe. Das kann die Grünen auch interessanter machen.

Gibt es Anzeichen dafür, daß sich die AnhängerInnen und WählerInnen, die für ein sofortiges Ende des Krieges sind, nun von den Grünen abwenden?

Ich werde oft in der U-Bahn oder S-Bahn von Leuten angesprochen – ich nenne das meine Sprechstunde –, die sagen, sie wollen nicht zur Europawahl gehen. Weil es für sie keine Partei mehr gibt, der sie ihre Stimme geben können. Aber es fällt ihnen auch schwer, nicht zu wählen. Um so mehr müssen wir über das Thema Kosovo reden.

Wie groß ist das Risiko, daß sich der Krieg auch auf die Abgeordnetenhauswahl im Herbst auswirkt?

Das kann man im Augenblick noch gar nicht sagen. Das wird sehr stark davon abhängen, wie viele jetzt die Grünen verlassen oder eine friedenspolitische, linke Strömung innerhalb der Grünen bilden. Es hängt auch davon ab, wie wir mit diesem Teil der Partei umgehen – ob wir sagen, wir brauchen sie, und versuchen, mit ihnen gemeinsam auch an stadtpolitischen Themen zu arbeiten. Insofern kann man heute nicht abschätzen, wie es in fünf Monaten aussieht. Aber eines ist klar. Das führt nicht gerade zu einem fulminanten Wahlergebnis für die Grünen. Interview: Dorothee Winden