Ach, Erwachsene. Ihr verspielt die Werte!

Nicht Kinder oder Schulen sind schuld am Werteverfall, seufzt Hartmut von Hentig in „Ach, die Werte“. Frieden, Gerechtigkeit, Zivilität können kaum gelehrt, sie müssen vorgelebt werden – von uns Älteren. Der Wertediskurs als Suchen der Gesellschaft  ■ Von Reinhard Kahl

Werte haben Konjunktur. Für ihre Verwirklichung wird Krieg geführt. Und wie immer schweben sie weit über dem Boden, derzeit 5.000 Meter über dem Balkan. Während die Nato glaubt, für die Menschenrechte zu kämpfen, indem sie Werte zu Flugscharen macht, geht unten das ewige, grausame Durcheinander weiter.

Auch in unseren Breiten herrscht die Ambivalenz, wenn auch weniger brutal. Vielleicht wird sich ausgehaltene Uneindeutigkeit als der größte Zivilisationsgewinn erweisen? Mit den Werten jedenfalls verhält es sich wie mit der Fee im Zaubermärchen: Sobald man sie beim Namen ruft, verschwindet sie. Tugend, Überzeugung, Wissen und Gewissen werden erst zu Werten erklärt, meinte Hannah Arendt, wenn sie bereits entwertet und austauschbar gemacht worden sind.

„Ach, die Werte“, seufzt Hartmut von Hentig in seinem neuen Buch. Der Leser seufzt mit und fragt, welche Werte? Die für das 21. Jahrhundert, annonciert der Verlag. Nun ja, denkt der Leser, so müssen Verlage werben. Das Wort Zukunft ist ausgeleiert. Das 21. Jahrhundert steht für wolkige Projektionen. Aber Hartmut von Hentig selbst nimmt die magische 21 auf. Er nennt sein Buch im Untertitel „Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert“.

Bevor er selbst in den Sog großer Worte gerät, argumentiert er konkret und leidenschaftlich, mit sicherem Gespür für die falschen Töne in der Agitation der Sorgen gegen den Werteverfall. Von Hentig verwehrt sich gegen die neuerdings wieder geforderte Werteerziehung. Das sei doch eine überflüssige Häufung. In der Erziehung ginge es immer schon um Werte, wenn auch implizit. Aber wie kann man das Implizite darstellen, ohne es zu verdinglichen oder am stabilen Wertehimmel fest zu installieren? Das ist ein Dilemma dieses Buches.

Zunächst entzieht von Hentig der Wertedebatte ihren doppelten Boden: Diejenigen, die heute so laut nach Werten in der Erziehung verlangten, seien doch die gleichen, die die Schule zur sterilen Unterrichtsanstalt gemacht hätten. Würden sie der Schule zugestehen, ein reicher, allerdings auch riskanter Erfahrungsraum zu sein, man müßte den Wertekanon nicht in Klarsichtfolie verpackt an die Schüler austeilen.

Wäre die Schule, wie Hentig fordert, eine kleine Polis, wäre sie die „embryonale Gesellschaft“, der Begegnungsort der Generationen, viele abstrakte Wörter würden sich erübrigen. Aber nun wollen die Händler der Werte die von ihnen selbst ausgetrocknete Wüste mit Kunstblumen versorgen.

Hentig spottet über den Aufruf, die Schule müsse wieder mehr Werte vermitteln. „Was heißt denn vermitteln?“ Das Beschwören von Werten ist offenbar ein Indikator für deren Abwesenheit. Mit Werten verhält es sich ähnlich wie mit dem „guten Leben“. Auch das läßt sich kaum positiv beschreiben. Erst wenn es verletzt wird, bekommen wir eine Vorstellung von dem, was fehlt. Werteappellen mangelt es am Gespür für diese Ambivalenz. Die von Hentig kritisierte Werteertüchtigung erinnert an Reden von Feiglingen, die mit großen Worten andere ermutigen wollen, statt selbst mutig zu sein.

Eine andere Grenze für die Wertedebatte in der Erziehung findet Hentig an der prinzipiellen Ungewißheit von Zukunft. Gewißheiten schränkten die Offenheit von Zukunft ein. Also gilt, es die schöpferische Kraft des Nichtwissens zu entdecken.

„Wir müssen den Wert 'Gewißheit' relativieren, das heißt, ihm einen anderen, den der Wahrhaftigkeit gegenüberstellen. Wir müssen uns zweitens ein 'philosophisches' Wissen aneignen: das Wissen, daß wir in den 'wichtigsten Angelegenheiten' nicht wissen und zugleich, daß wir uns damit nicht zur Ruhe setzen können.“

Jeder Gedanke an die Zukunft ruft Ungewißheit hervor. Vielleicht ein banaler Gedanke. Aber die Umkehrung wird brisant: Daß die Ungewißheit dann Zukunft erzeugen kann, wenn sie nicht geleugnet wird! Sie ist der Kreißsaal, in dem Neues zur Welt kommt. Und in dem Maße, wie Wandel zunimmt, wächst der Bedarf an Potentialität, also an Ungewißheit. Darüber möchte man am liebsten mit Hartmut von Hentig weiter nachdenken. Wie können wir Ungewißheit mit Gewißheit ausbalancieren? Was folgt daraus für's Aufwachsen?

Leider läßt er dieses spannende Thema fallen, nachdem er einige Gewißheiten über die Ungewißheit formuliert hat. Daß der Doyen der Bildung sein Thema verläßt, ist dennoch folgerichtig. Denn wenn Werte nicht proklamiert, sondern gelebt werden müssen, dann ist das zunächst die Sache der Erwachsenen. Die sprechen eigentlich über sich, wenn sie über ihre Kinder lamentieren. Ob nun in Larmoyanz oder voller Hoffnung – das Reden über die nachwachsende Generation gerät leicht zur großen Ausrede. Und unvermeidlich wird jede Debatte über Bildung und Erziehung ein Selbstgespräch der Erwachsenen, der Gesellschaft darüber, was sie ist, was sie sich wünscht und was sie befürchtet.

Es ist also konsequent, wenn von Hentig verlangt, die Erwachsenen, die Bürger, müßten wieder Politik machen. Und damit meint er etwas anderes als das, was uns in der „Tagesschau“ als Politiker-Politik vorgeführt wird. Zur Neuerfindung der Politik macht er Vorschläge.

Abgeordnete sollten beim Einzug ins Parlament ihre Parteizugehörigkeit ablegen und keinem Fraktionszwang unterliegen. Sie sollen ihre Meinung im Parlament ändern dürfen, ja ändern müssen. Sie sollen überzeugen und sich überzeugen lassen. Sie sollen lernen. Sie handeln nicht als Marionetten, sondern als Personen. Die letzte Instanz ist Ihr Gewissen.

Hier flammt sie wieder auf, die prägende Leitidee des Pädagogen von Hentig, die antike Polis. Dazu gehört auch sein Glaube, daß Menschen mit vernünftigen Entwürfen über ihre Welt das einmal als richtig Erkannte verwirklichen. „Werte sind das, was wir um seiner selbst willen suchen: Zwecke. Tugenden sind meist ein Ergebnis von Erfahrung und sehr oft bloße Konventionen.“

Platonisch blickt er nun doch wieder zum Firmament der Ideen und Werte und pocht auf die Verbindlichkeit des einmal als richtig Erkannten. Nun aber beschleichen den Leser Zweifel. Läßt sich unser Handeln so klar und sauber nach Zweck, Mittel und Ergebnis trennen? Ist das nicht die größte Illusion des alteuropäischen Denkens? Sind das nicht Muster, deren Untauglichkeit derzeit auf dem Balkan am Boden und aus der Luft mörderisch durchgespielt wird? Müssen wir nicht mit dem Gedanken brechen, daß jede Ordnung von ihren Schöpfern bezweckt sein muß?

Die Amsterdamer Erziehungswissenschaftlerin Frieda Heyting ist es, die solche Fragen stellt – in der jüngsten Ausgabe der von Hentig herausgegebenen Zeitschrift Neue Sammlung. Sie beginnt mit ihm eine Kontroverse über die Wirksamkeit von Ideen und Absichten. Für Frieda Heyting ist die Gesellschaft eben nicht Resultat unserer Entwürfe, wenngleich sie Resultat menschlichen Handelns sei. Wir produzierten vielmehr schwer kalkulierbare Nebenfolgen, als daß wir strategisch unsere Absichten verwirklichten. Wir wissen eben nicht, was wir tun, zumindest nicht vorher. Deshalb, so Heyting, sollten Aufmerksamkeit, Verantwortung und ein Gespräch ohne Aussicht auf letzte Worte an die Stelle der Überzeugung treten, die Hartmut von Hentig letztlich doch teilt: daß sich aus richtigen Antworten jene Werte und Ziele ergeben, von denen nachgeordnete Mittel, Techniken und Handlungen abhingen. Die zwischen Frieda Heyting und Hartmut von Hentig begonnene Debatte wird sicherlich weitergeführt – aber nicht gelöst werden: Kommt es auf das Wie oder auf das Was an?

Hartmut von Hentig: „Ach die Werte – Über eine Erziehung im 21. Jahrhundert“. Hanser Verlag, München 1999, 165 Seiten, 28 DM

Frieda Heyting: „Über Pluralität und Verantwortung“. In: eue Sammlung. Vierteljahresschrift für Erziehung und Gesellschaft“, 1/1999, 37 DM

Von Hentig: „Werte sind das, was wir um seiner selbst willen suchen: Zwecke. Tugenden sind sehr oft bloße Konventionen.“