Sieg des Paternalismus

Wie und was erzählen? Cannes prämierte den Filmförderungsfilm mit prätentiösem Kunstanspruch. Als beste Produktion wurde „Rosetta“, die Geschichte einer Bandarbeiterin der belgischen Brüder Dardenne, mit der Goldenen Palme ausgezeichnet  ■   Von Brigitte Werneburg

Daß Peter Greenaway nicht mehr weiß, was er erzählen soll, gleichzeitig aber sicher ist, wie er seine Ratlosigkeit in den bekannt pompösen Tableaus ausstellen wird – diesen Zusammenhang könnte man die Beständigkeit und Verläßlichkeit des Peter Greenaway nennen. Anders als es der erste Anschein glauben macht, geht es in „8 œ Women“ nicht um Sex-, sondern um Geldphantasien. Seine 8 œ Frauen stehlen 500.000-Dollar-Reitpferde oder gebären 25.000-Dollar-Babys und lassen sich überhaupt gerne von sehr reichen Männern kaufen. Das viele Geld, das es kostete, den Eindruck von noch viel mehr Geld auf der Leinwand hervorzurufen, kam selbstverständlich nicht von der Filmindustrie. Das wäre die Phantomdrohung, „The Phantom Menace“, die Cannes in diesem Jahr besonders heftig von sich wies. Abgesehen von John Sayles mit seinem mißglückten Abenteuerfilm „Limbo“ hat es nur Tim Robbins geschafft, Studiogeld zu bekommen. Ausgerechnet Walt Disney bezahlte seine nostalgische Sicht auf die linke New Yorker Kunstszene der dreißiger Jahre.

Wie bei Greenaway stammte das Geld auch bei den Amerikanern David Lynch und Jim Jarmusch aus den offenbar doch recht reichhaltigen Fördertöpfen Europas. Wenn es nicht gleich die unentgeltliche Arbeit der Armee ist, wie bei Chen Kaiges chinesischer Imperiumssaga (Großer Technik-Preis), dann ist es das Eintrittsgeld der Kinobesucher – gelobt seien „Titanic“ oder „The Phantom Menace“, die es einbringen –, dann sind es die Gebühren der Fernsehzuschauer und Steuergelder, die das Wettbewerbsprogramm und das Festival von Cannes selbst finanzierten. Es ist der Sieg eines paternalistischen Systems der Verteilung von Fördergeldern, über dessen Kriterien der Bezuschußung und Finanzierung man nie völlige Klarheit gewinnen wird, der in diesem Jahr zu Filmen führte, die das Kinopublikum zum größten Teil verschmähen wird. In vielen Fällen völlig zu Recht.

Hat sich das Kino nicht als populäre (und nicht als elitäre) Kunst den Rang erobert, das künstlerische Leitmedium unseres Jahrhunderts zu sein? Und machte es nicht immer das Vergnügen des Kinos aus, im Populären das Avantgardistische, das Avancierte, das Besondere und Einzigartige zu entdecken, den Einfallsreichtum, der über den Normalfall des Mediums und seiner Bedingungen hinausweist? Was ist dran so falsch, daß nun alle Filme, die im Populären wurzelten, also die von Lynch, Kitano, Jarmusch oder auch Robbins, von der Jury schlicht abgestraft wurden? Wie etwa Almodóvar mit dem Regiepreis? Warum durfte nicht auf einfallsreiche, aber verständliche Weise von großen Themen gesprochen werden?

Darüber, wie man mit Hilfe der Literatur sein Leben erfindet; nicht einfach einem gegebenen Moralkodex anhängt, sondern einem selbst erlesenen, erlittenen und erarbeiteten. Weshalb man ein Segelboot auf dem Dach eines Hochhauses bauen muß – und Isaach De Bankolé darf dann an den Bootsbauer die verwunderte Frage stellen: Und wie verdammt noch mal, kriegst du dieses Ding denn jemals auf die Erde?

Jim Jarmusch gelang sein Spiel mit dem Kino und seiner Geschichte, mit „Le Samurai“ von Jean Pierre Melville, dem Blaxploitation-Kino der siebziger oder dem Kung-Fu-Film der achtziger Jahre. Und es gelang ihm darüber hinaus ein Film, der unmißverständlich auf eine große Frage zielt: Was ist gegen den Verlust der Seele der des Lebens?

Wollte „L'humanité“ von Bruno Dumont nicht etwas Ähnliches erzählen? Aber „wer Menschheit sagt, der will betrügen“, das böse Wort von Carl Schmitt scheint hier einmal mehr zu gelten. Der Betrug liegt bei Dumont in der unmenschlichen Prätention. Nicht weniger pompös als Peter Greenaway – wenngleich auf völlig andere Weise – setzt Dumont eine eigentlich einfache Geschichte in Szene. Ein Polizist, mit einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert, versucht verzweifelt darüber nicht seine Seele zu verlieren, versucht aus dem Unglück eines geliebten Menschen nicht seinen Vorteil zu ziehen, und opfert sich am Ende.

Doch diese Geschichte ist Dumont nicht groß genug. Sie muß unbedingt aufgeblasen werden. Und daher muß (nach dem geschändeten Kind) das nächste, gnädigerweise höchst lebendige und erwachsene weibliche Geschlechtsteil den „Ursprung der Welt“ zitieren. Man braucht die Vorbilder wie Courbet oder Duchamp gar nicht zu kennen, um zu spüren, daß mit Dumonts Bildern etwas nicht stimmt, daß man ans Bildungsbürgertum verraten wird. Wahrscheinlich eben an die Filmförderungsgremien. Die Geisteshaltung hinter Dumonts Feier der Provinz (denn auch das ist der Film, was ihm einen zusätzlichen reaktionären Touch gibt) jedenfalls ist nicht human, sie ist arrogant.

Nun hat die Jury unter David Cronenberg „L'humanité“ mit ihrem großen Preis bedacht und seinen Hauptdarsteller Emmanuel Schotté als besten Schauspieler sowie seine Hauptdarstellerin Severine Caneele als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Das geht für Caneele, die ihren Preis mit Emilie Dequenne, der Hauptdarstellerin des Palmengewinners „Rosetta“, teilt, völlig in Ordnung. Severine Ceneele gelingt es, ihrer Rolle als der vom Polizisten Pharaon de Winter geliebten Fließbandarbeiterin Domino eine spröde Schönheit und Lebendigkeit zu verleihen, die die Stilisierung des Films überwindet. Bei Emmanuel Schotté freilich ist man sich nicht sicher, ob es überhaupt um Schauspiel geht oder um schlichte Personifizierung. Denn so automatengleich wie Schotté im Film agierte, so automatengleich nahm er auch den Preis in Empfang.

Der Normalfall der Filme, die von der Jury mit Preisen bedacht wurden, ist also, kurz gesagt, ihr peinlicher Kunstanspruch und ihr Abscheu vor dem Populären. Entsprechend ging denn auch der Preis für das beste Drehbuch ausgerechnet an Yuri Arabov und Maria Koreneva für „Moloch“. Der Preis der Jury für Manoel de Oliveiras „La lettre“ muß geradezu als gemäßigte Entscheidung gewürdigt werden. Oliveira teilt mit Jarmusch das literarische Moment. Ob seine Verfilmung der „Prinzessin von Kleve“ so ohne weiteres im heutigen Rahmen funktioniert, darf aber bezweifelt werden. Anders als in Mme. de Lafayettes einstmals revolutionärem Roman, der das lesende Bürgertum seine gegen den frivolen Adel gerichtete neue Moral lehrte, erinnert die Versuchung der Prinzessin nun durch den Popstar allzusehr an die Probleme der seligen Lady Di oder der Prinzessinnen von Monaco nebenan. Immerhin, Soap-opera vom Feinsten.

Auch die Goldene Palme für „Rosetta“ ist, wenn es denn unbedingt das frankophone Kino sein mußte, eine einigermaßen akzeptable Entscheidung. Es ist die tatsächlich erstaunliche, erst 18jährige Schauspielerin Emilie Dequenne, die den Film der belgischen Brüder Dardenne sehenswert macht. Sie spielt Rosetta, die mit ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, auf einem Campingplatz lebt. Rosetta sucht mit verzweifelter Konsequenz Arbeit und verrät dafür auch einen Freund. Ausgerechnet er hilft ihr aber am Ende, ihre Seele nicht völlig zu verlieren: „L'humanité“ in seiner eindeutig besseren, rauheren, direkteren Fassung. Wenn freilich dieser Film die Palme davonträgt, dann hätte ein anderes Sozialdrama, nämlich Andreas Kleinerts „Wege in die Nacht“, ruhig im Wettbewerb spielen dürfen. Wie sie die Welt sehen, darin unterscheiden sich die Filme kaum.