Dekorativ nachbrennen

Frauenbilder beim Berliner Theatertreffen und überhaupt: Leiden müssen immer die anderen. Mit seinem neuen Realismus bleibt als Jünglingswunder nur Frank Castorf übrig  ■   Von Petra Kohse

„Das ist ja supi“, sagte die Stewardeß der Deutschen BA in Düsseldorf, als offenbar unerwartet ein Bekannter an Bord kam. „Ganz supi, daß ich dich hier treffe.“ Später entpuppte sie sich aber doch als selbstbewußte Fachkraft, die auch Anzugträger zurechtzuweisen versteht, wenn diese sich zu früh aus ihren Sitzen erheben. Ähnlich am Abend davor Ilse Brusis, die nordrhein-westfälische Kulturministerin. Zur Eröffnungsrede der Mülheimer Theatertage trug sie einen Rock, der genau jene Handbreit zu kurz war, auf die, so nimmt man in Frauenzeitschriften an, männliche Kollegen gesteigerten Wert legen.

Gleichwohl referierte sie in überlegter Ruhe und vergaß nicht, immer wieder die „Herren und Damen“ im Saal anzusprechen, den Angehörigen des anderen Geschlechts höflich den Vortritt lassend. Da haben wir sie doch, die neuen Frauen! Ohne Angst vor Peinlichkeit behaupten sie längst Plätze, von denen Männer immer noch annehmen, sie müßten sie ihnen freihalten. Ein Zuvorkommen, das auf Folgenlosigkeit angelegt ist und viel lieber als im Leben in der Kunst praktiziert wird.

Beim Berliner Theatertreffen beispielsweise befand sich in diesem Jahr unter den zehn eingeladenen Regisseuren nur eine Frau, und auch die zehn inszenierten Stücke stammen außer einem allesamt von Männern. Trotzdem kümmern sich acht der Dramen um Frauenschicksale. Fünf in der Hauptsache und drei in der Nebensache. Von den restlichen beiden ist eines eigentlich ein Lesetext. Bleibt „Die schmutzigen Hände“ von Sartre, inszeniert von Frank Castorf. Es ist das einzige Stück, das sich für Frauen nicht interessiert und mit der tatkräftigen Kommunistin Olga und dem dümmlichen Bürgermädchen Jessica bloß Typen auftreten läßt. Genau diese Jessica aber wurde in der Darstellung von Kathrin Angerer zur einzigen starken Frau des Theatertreffens.

Natürlich hat dieser Aspekt bei der Auswahl der Jury (drei Männer, zwei Frauen) keine Rolle gespielt. Statt dessen ging es wie jedes Jahr darum, ein „Tableau“ mit „Nachbrenndauer“ zusammenzustellen. Vor Ort bot sich das vermeintliche Brennen dann allerdings bloß als Flackern dar, weswegen beim fortgesetzten Hinsehen alsbald die Horizonte verschwammen und ganz vorn an der Rampe als einzige Kontur das verbindende Detail sichtbar wurde und winkte. Nennen wir es den One-world-Gedanken des deutschsprachigen Theaters. Die Globalisierung der zweiten Wirklichkeit: Der fast frauenlose Betrieb erfindet sich betriebsam eine Frauenfrage.

Zum Beispiel Botho Strauß. Im „Kuß des Vergessens“ läßt er die männliche Hauptfigur Herrn Jelke in der neunten von vierzehn Szenen ritterlich sterben, damit die weibliche Hauptfigur Ricarda endlich zu einem Eigenleben gelangt. Das aber findet dann doch bloß an der Seite eines anderen Mannes statt, und schon in der elften Szene ruft Herr Jelke aus dem Jenseits wieder an. Die Uraufführung am Zürcher Schauspielhaus verankerten der Regisseur Matthias Hartmann und der Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann mit Anne Tismer und Otto Sander in den Hauptrollen so perfekt im Dekorativen, daß man am liebsten mit der Scheckkarte eines vermögenden Gatten darin einkaufen gegangen wäre.

Oder das neue Stück von Franz Xaver Kroetz: „Die Eingeborene“. Weit weniger elegant und sehr viel herzlicher geht es in diesem „Stück für großes Kasperltheater“ ausschließlich um ein Frauenschicksal, in dem sich aber genau besehen auch nur die Schlechtigkeit der Männer spiegelt. „Ich bin die Irmgard Schwertl, und ich bin sehr positiv“, sagt Irmi, gespielt von Maria Happel. Trotzdem langt es in den drei Akten, die Achim Freyer am Wiener Akademietheater mit überlebensgroßen Masken und Puppen im geschmeidigen, aber langwierigen Vorzeigegestus urinszenierte, nur zum Widerstand, nicht zur Befreiung. Von der glücklosen Geburt des ersten zur glücklosen Geburt des zweiten Kindes führt Irmis Leidensweg, der gesäumt ist von Männern, die sie am Anfang vergewaltigen und am Ende verlassen.

Die Idealisierung der Frau als Opfer ist dabei keineswegs die Sache alternder Männer. Die britische Dramatikerin Sarah Kane, die sich im Februar im Alter von 28 Jahren das Leben nahm, war etwa ein Vierteljahrhundert jünger als Strauß und Kroetz, als sie ihr Stück „Gesäubert“ schrieb. Darin gerät Grace auf der Suche nach ihrem an Überdosis verstorbenen Bruder an den Arzt Tinker. Ihre Zwangsvorstellung, sich dem Bruder auf nekrophil-inzestuöse Weise anverwandeln zu müssen, trifft auf seine offenbar grundlose Grausamkeit. Am Ende sind von einem schwulen Jungen nur noch Kopf und Rumpf übrig – was einmal sein Schwanz war, baumelt jetzt Grace zwischen den Beinen.

An den Hamburger Kammerspielen inszenierte das ausgerechnet der früher so lebensfrohe Peter Zadek! Mit Kassenfüllern wie Ulrich Mühe und Susanne Lothar lockt er das Publikum vor eine grüngekachelte Bühne, wo sich Geschwisterkitsch unkommentiert mit Splatterphantasie paart und eine Frau ihre exemplarische Vernichtung betreibt.

Überhaupt diese Selbstkasteiungen. „Rose Bernd“ von Gerhart Hauptmann, inszeniert von Valentin Jeker, Schauspiel Bonn: Armes Mädchen soll heiraten, will aber nicht. Unheilvolle Exposition mit einer Naturholzbühne voller Spalten und losen Brettern (Bühne: Beatrix von Pilgrim), und dann Auftritt Johanna Wokalek, filmbekannt als Ilse aus „Aimée und Jaguar“ und jetzt das 24jährige Fräuleinwunder des Schauspiels Bonn, der am Ende des Theatertreffens auch der Alfred-Kerr-Nachwuchsdarstellerinnenpreis verliehen wurde.

Strahlend fast hockt sie irgendwann auf dem Boden, hat die Beine umfaßt und wiegt sich wonnig, während sie sagt: „ Auf Erden ist halt bloß Jammer und Not, und wir müssen halt auf den Himmel warten.“ Volksstückhafter Realismus, begraben im Dunnemal. Definitiv kein Rollenmodell ist diese Rose, aber auch nicht zu bedauern. Vielmehr selber schuld an sich, ebenso wie viele andere Frauenfiguren bei diesem Treffen.

Denn obwohl Theater stoisch als das einzige Echtzeitmedium gepriesen wird, trauen sich die Theaterschaffenden nicht, die Geschichten als kommentierbar und damit veränderbar zu begreifen. Thomas Bischoff läßt Heiner Müllers „Weiberkomödie“ um Gleichstellungskämpfe der Frauen im neugewonnenen Sozialismus in seiner Leipziger Inszenierung stramm aufsagen, immer mit der Betonung auf dem sonst Unbetonten: den Artikeln etwa oder den Konjunktionen. Damit aber bezieht er ebensowenig eine Position zum 50er-Jahre-Vermännlichungswahn des „Brigadiers“ Jenny Nägle, wie es Andrea Breth an der Schaubühne gewagt hat, Corinna Kirchhoff die Jammerjule Jelena in Tschechows „Onkel Wanja“ kritisieren zu lassen. Leblose Bildungshuberei ist die Folge, selberlesen die Alternative.

Einen „neuen Realismus“ forderte in den letzten Tagen der Regisseur Thomas Ostermeier in einem Vortrag in Berlin und meinte damit: neue Texte. Das Neue aber wird immer als das Alte ankommen, wenn man es nicht von der heutigen Zeit aus zu lesen versteht. Und hier endlich kommt Frank Castorf ins Spiel, das wahre Jünglingswunder des deutschsprachigen Theaters. Denn genau in dem Augenblick, in dem die Arbeit des Volksbühnenchefs durch die neue Textgläubigkeit der jüngeren Regiegeneration in den Ruch der Gesellschaftsferne geriet und auch vom politischen Furor des Hausregisseurs Christoph Schlingensief als schlafmützig überrollt zu werden drohte, hat sich dieser zornige ältere Mann als junger Meister des politischen Theaters neu erfunden.

Nicht von der zum Theatertreffen eingeladenen Sartre-Inszenierung ist die Rede, die auch hübsch ist, wenn auch auf politischem Thesentheater von früher beruhend. Sondern von der während des Theatertreffens zuerst in Wien, dann in Berlin herausgekommenen Inszenierung von Dostojewskis „Dämonen“. Nach siebenjährigem, zuweilen ungerichtetem Furor steht der Regisseur jetzt in aller Ruhe da, angekommen nicht im Westen, sondern in dem, was trotz allem einst Berliner Republik genannt werden wird, und schaut sich die Sache von innen an.

Dostojewskis Roman über die vorsozialistische Desorientierung wird bei Castorf zu einem Schwanengesang auf die postsozialistische wie die pluralistische Gesellschaft. Zu einem Maelstrom von Selbst- und Fremdbezichtigungen, der niemanden trifft, nirgendwohin führt und nur deshalb irgendwann abgebrochen wird, weil der durchschnittliche Zuschauer nach viereinhalb Stunden einfach genug hat. Das Volksbühnenensemble spricht bearbeiteten Dostojewski, aber es spricht dabei von sich selbst – und das eben ist die Kunst, die den ganzen als „bemerkenswert“ geladenen Rest des Theatertreffens nicht nur in seiner inhaltlichen Bemühung, sondern auch in seinem ästhetischen Vermögen der Lüge bezichtigt.

Kathrin Angerer, Henry Hübchen, Silvia Rieger, Sophie Rois oder Martin Wuttke verhalten sich auf kunstvollste Weise wie wirkliche Menschen. Sie spielen die Figuren mit einer aus der Situation geborenen Assoziationskraft, als wär's ein Stück von ihnen, was nichts mit Einfühlung zu tun hat.

Mit dieser Fähigkeit, sich nicht mühsam etwas heranschaffen zu müssen, sondern stets vom eigenen Standpunkt aus urteilen zu können, läßt das Volksbühnenensemble auch jüngere Versuche weit hinter sich, die Anfang Mai in der Theaterwerkstatt „reich & berühmt“ zu sehen waren. Vornehmlich um Fragen der Fragmentarisierung weiblicher Identitäten kreisend, ließen Gesine Danckwart („Girlsnightout“) oder René Pollesch („Heidi Hoh“) ihre Darstellerinnen doch ausschließlich Texte aufsagen, mit denen sie nichts zu tun zu haben schienen, und das so, daß man die geistigen Eselsbrücken quietschen hörte. Was nicht nur eine Frage des Handwerks ist, sondern auch der Haltung. Trotzdem wurden hier, bei „reich & berühmt“, in einem von Frauen fast dominierten Netzwerk, wenigstens keine weiblichen Opfer vorgeführt, sondern selbstbewußte Talking Heads. Als schiere Lebensäußerung nimmt man die Kunstgewerblichkeiten hier dann wieder fast gerne in Kauf. Denn: Da sind sie doch die neuen Frauen. Die, wenn sie peinlich sind, es wenigstens auf die eigene Rechnung setzen.