Der Dochnochpräsident

■ Im zweiten Anlauf hat er es geschafft. Politischer als von vielen erwartet präsentierte sich der neugewählte Bundespräsident Johannes Rau im Reichstag. Seinen Posten verdankt der Sozialdemokrat den rot-grünen Frauen, die ihm zuliebe zwei Kandidatinnen verschmähten

Das Wort „Ansprechpartner“ gehört nicht unbedingt zu den bewegendsten Vokabeln der deutschen Sprache. Trotzdem löst Johannes Rau damit den ersten Applaus auf seine Rede als neuer Bundespräsident aus.

Er wolle der Präsident aller Deutschen sein, beginnt Rau und entspricht damit dem Comment für Reden zu derlei Anlässen. Dann kommt die politische Spitze: Er wolle aber auch „der Ansprechpartner für alle Menschen (sein), die ohne einen deutschen Paß bei uns leben und arbeiten.“ Nach nicht einmal zwei Minuten hat Johannes Rau den ersten Punkt bei seinen Wählern in der Bundesversammlung gemacht.

Wenig später legt Rau nach, ganz als würde er das grimmige Gesicht bei manchen Abgeordneten von CDU/CSU nicht bemerken. Im Grundgesetz stehe, „daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Da steht nicht, die Würde der Deutschen, sondern die Würde des Menschen.“ Den rot-grünen Wahlleuten im Berliner Reichstag mag die halbe Pleite der Doppelpaß-Reform im Nacken sitzen, vielleicht sind sie immer noch gebeutelt von der Unterschriftenkampagne der Union. Jetzt aber haben sie einen der Ihren zum Präsidenten gemacht, und er legt ein Bekenntnis zu Multikulti ab. Ist der Versöhner doch kein Softie? Unsere Wahl, soll der Applaus wohl auch besagen, kann so falsch nicht gewesen sein. Bei der CSU rührt sich kaum eine Hand.

Kurz nach 12 Uhr schlängeln sich 1.338 Wahlmänner und –frauen in den engbestuhlten Plenarsaal. Die Vorbereitungen für den ersten Wahlgang sind getroffen. Natürlich hatte es Skepsis gegeben in den Reihen von SPD und Grünen. In ihrer Fraktionssitzung ließen zwei Grüne durchblicken, sie würden Rau die Stimme verweigern. Offenbar nannten sie aber weder einen Grund, noch ließen sie erkennen, wie sie statt dessen wählen wollten. „Ruhe und Geschlossenheit“ habe geherrscht, schildert eine Teilnehmerin der Runde und klingt durchaus zufrieden. Mit dem rot-grünen Ehevertrag in Bonn wurde die grüne Unterstützung für Rau festgeschrieben. Im Gegenzug erhält der kleine Partner das Vorschlagsrecht für ein EU-Ressort. „Man kann es Postengeschachere nennen“, sagt die ostdeutsche Grüne Marianne Birthler, „oder Koalitionsvereinbarung.“

Das Ergebnis des ersten Wahlgangs bezeugt vor allem die erfolgreiche Gewissensmassage in der FDP-Fraktion. Rau verfehlt die notwendige absolute Mehrheit um 13 Stimmen. Das Ergebnis ist nicht nur eine Niederlage für Johannes Rau, sondern auch für Jürgen Möllemann. Der Ex-Minister ist FDP-Landesvorsitzender in Raus Stammland NRW und hofft dort auf eine sozialliberale Koalition. Hätte er heute im Reichstag dem SPD-Kandidaten sofort zum Sieg verhelfen können, wäre das eine mehr als freundliche Geste gewesen. Statt dessen hat sich Parteichef Wolfgang Gerhardt mit seinem Drängen durchgesetzt, aus Treue zur Union Raus Wahl im ersten Gang zu verhindern. Jetzt verkündet Gerhardt vor den Türen seiner Fraktion, ab sofort könnten die Wahlleute der FDP sich von ihrer eigenen Verantwortung leiten lassen. Keiner fragt, wem sie vorher gehorchten.

Die neue Entscheidungsfreiheit der Liberalen macht Raus Wahl so gut wie sicher. Neun Stimmen fehlen ihm zur absoluten Mehrheit, und bereits bei Vorabstimmungen hatten zwölf FDP-Vertreter ihre Sympathie für den Sozialdemokraten bekundet. Die Abstimmung, zu der die Wahlleute jetzt in den Plenarsaal zurückstreben, wird ihm letztlich einen Vorsprung von zwanzig Stimmen bescheren. So ist es eigentlich längst zu spät, noch mal eine Frage aufzuwerfen, die monatelang öffentlich diskutiert wurde, aber in den Wandelgängen des Reichstags offenbar niemanden mehr interessiert: Warum nicht eine Frau als Präsident?

Dagmar Schipanski, wiewohl von der CDU nominiert, ist parteilos und hat politisch einen unabhängigen Geist bewiesen. Sie hat sich zu DDR-Zeiten nicht beugen lassen, danach eine steile Karriere in der Forschung und in wissenschaftlichen Gremien hingelegt – ist sie nicht eine Versuchung für jede rot-grüne Wahlfrau?

„Gar nicht“, sagt Renate Schmidt, SPD-Vorsitzende in Bayern. „Sehr ehrenwert“ sei Frau Schipanski und „seriös“ dazu. In der Politik sind das vergiftete Komplimente. So redet man nicht über Kandidaten, denen man wohlmeint. Und in der Tat: „Wir sind zwar Frauen, aber wir sind doch nicht zufällig in der SPD“, sagt Schmidt und wiederholt das Argument, Schipanski sei nur nominiert worden, weil klar war, daß die Union chancenlos sei. „Eine subtile Form der Diskriminierung“ sei das.

Doch könnten nicht Renate Schmidt und andere rot-grüne Frauen Schipanskis Chancen mit ihren Stimmen drastisch verbessern? „Sie verkörpert nicht das grüne weibliche Leitbild“, erklärt eine grüne Frau, die lieber ungenannt bleiben will, und bescheinigt der Kandidatin „so was gewisses Hausfrauenmäßiges“. Einzig eine SPD-Politikerin, die selbst als ministrabel galt, flüchtet sich nicht in Verdruckstheiten. Schipanski fehle die Erfahrung des politischen Insiders. „Eine gute Naturwissenschaftlerin, eine Frau und aus dem Osten zu sein – das reicht nicht.“ Patrik Schwarz, Berlin