„Fall A ist eingetreten“

Zwei Frauen gegen Bruder Johannes – und beide sind unterlegen. Die Physikerin aus Ostdeutschland, Dagmar Schipanski, behilft sich mit Logik, die Theologin Uta Ranke-Heinemann fragt sich, auf welchem Planeten sie sich eigentlich befindet  ■ Von Patrik Schwarz

Der Ausflug der Hochschulprofessorin Dagmar Schipanski in die Politik endet in Zimmer 2S 036. Für den Abschluß eines Ausflugs, der die parteilose Physikerin immerhin bis in den Berliner Reichstag geführt hat und dort auf den Sessel der CDU/CSU-Bewerberin um das Amt des Bundespräsidenten, ist das kein schlechter Ort. Er befindet sich im südlichen der mächtigen Türme zu beiden Seiten des Reichstagsportals, und die Sicht ist ausgezeichnet. Doch Dagmar Schipanski hat für die Aussicht gerade keinen Blick. Sie wirkt eher tapfer als erfreut. „Es ist nicht so, daß ich rausgehe und sage: Hurra, ich habe verloren“, hat sie soeben einer Fernsehkamera erzählt.

Bis vor knapp zwei Stunden, bis zur Stimmauszählung des zweiten Wahlgangs, hätte sie noch Präsidentin werden können. Jetzt, gegen sechs Uhr abends, steht sie etwas verloren in dem großzügig ausgelegten Turmzimmer. „Besprechungsraum“ steht an der Tür. Von den politischen Granden der CDU läßt sich keiner blicken. Umgeben von vier Mitarbeitern und ihrer Familie nimmt Dagmar Schipanski Abschied von ihrer Präsidentschaftskandidatur. Ehemann Tigran köpft eine Flasche Sekt, der erste Toast geht auf die Kandidatin, weitere folgen nicht. Die kleine Gruppe eilt aus dem Zimmer, Abfahrt ins Hotel. Auf dem Display neben der Tür zu Raum 2S 036 steht „Hauptlicht aus“.

„Wenn Sie mich jetzt fragen, soll ich das Reichstagsgebäude schön finden ...“ – eigentlich hat Uta Ranke-Heinemann die Frage gerade selbst aufgeworfen. Aber das muß dem Interesse an ihrer Antwort ja keinen Abbruch tun. –, „... dann sage ich: Ich möchte hier selbst als Obdachloser nicht untergebracht werden!“ Erstens könne sie Teppichboden nicht leiden. Und ehe sie zu ihrem zweiten Punkt kommen kann, ist die Präsidentschaftsbewerberin der PDS bereits in Moskau gelandet. Von einem Besuch an der Lomonossow-Universität erzählt sie, „vor zwanzig oder dreißig Jahren im Zuge meines Friedensengagements“, wo es ganz ausgezeichnete Eichenfußböden gegeben habe. „Aber gut, Sie haben mich danach ja gar nicht gefragt, brauche ich also auch nicht gleich zu mekkern.“ 69 Stimmen erhält sie im ersten Wahlgang, fünf mehr, als die PDS-Wahlmänner und –frauen in der Bundesversammlung aufbieten können. Immerhin 62 sind es noch im zweiten und letzten Wahlgang.

Unbestreitbar ist Ranke-Heinemann damit eine der Hauptpersonen dieser Bundespräsidentenwahl. Trotzdem findet sich ihr Sitzplatz nicht unter den Wahlmännern und –frauen im Plenarsaal, sondern auf einer der Zuschauergalerien. Sie wird neben einem Blatt Papier plaziert, auf dem „Schipanski“ steht. Nicht für Dagmar, für Herrn Schipanski ist hier reserviert. Noch weiter links sitzt Rau-Ehefrau Christina mit ihren Kindern, daneben Doris Schröder-Köpf. Die PDS hatte ihre Kandidatin zu spät ins Rennen gebracht, um sie auch als Wahlfrau aufzustellen. Ranke-Heinemann ist auf der Angehörigenbank gelandet, ein Gast auf ihrer eigenen Party.

Ob sie das Gefühl hat, sie werde hier als ernsthafte Kandidatin behandelt? „Ich bin bisher noch gar nicht behandelt worden“, sagt sie, „ich bin völlig unbehandelt hier.“ Und weil ihr da nun wirklich ein schöner kleiner Stich gegen jene Lästerer gelungen ist, die angedeutet haben, sie solle doch vielleicht mal einen Arzt aufsuchen, muß sie selber ein wenig kichern.

Eine „Ein-Frau-Message“ nennt sie sich, und nachdem das Protokoll Ansprachen nicht vorsieht, nutzt sie das Medienecho außerhalb des Plenarsaals: „Wenn ich mir Clinton anschaue, der jetzt Bibelworte hinter jeder Bombe herschickt, frage ich mich, auf was für einem Planeten befinde ich mich eigentlich?!“ Zwischen den vielen aufgeregten Sätzen findet sich an diesem Nachmittag allerdings auch einer, der Präsidialformat hat. Er ist schlicht und klar und verkörpert dabei doch einen eigenen Klang: „Eine friedliche Nation zu repräsentieren, das scheint mir der Kern und Stern dieses Amtes zu sein.“ Nun ist es nicht immer ganz einfach, eine Person ernst zu nehmen, die in apfelgrünen Schuhen, apfelgrünem Lederkostüm und zwei apfelgrünen Einkaufstaschen auftritt – selbst wenn Ranke-Heinemanns Erklärung durchaus überzeugt, ein durchgängiges Grün steche am besten ins Auge. Im großen und ganzen aber begegnen ihr die Menschen hier freundlich, keiner meint es böse mit ihr.

Ganz zum Schluß schafft Uta Ranke-Heinemann es übrigens doch noch in den Plenarsaal – im Augenblick ihrer Niederlage. Am Saaldiener vorbei stürmt sie mit einem Blumenstrauß zu Johannes Rau. Immerhin gehört man zur selben Familie: Rau war der Zögling ihres Vaters, des bisher einzigen SPD-Bundespräsidenten Gustav Heinemann, Raus Ehefrau Christina ist eine Enkelin Heinemanns. „An dem Wort Familienbande ist viel Wahres dran“, lächelt fein der neugewählte Bundespräsident.

572 Stimmen erbringt die Auszählung für Dagmar Schipanski. Im zweiten Wahlgang sind die FDP-Delegierten in beträchtlicher Zahl zu Rau übergelaufen, fast 120 Stimmen Vorsprung hat er. „Es gibt Fall A und Fall B“, sagt Dagmar Schipanski anschließend, „es ist der Fall A eingetreten.“

Sieg und Niederlage, bei Naturwissenschaftlern klingt das denkbar undramatisch. Wie sich überhaupt alles sehr abgezirkelt anhört, was die erste Ostdeutsche im Rennen um das Amt des Bundespräsidenten sagt. Ergebnis eines Kandidatentrainings durch die CDU? Nein, sagt die Professorin, präzise formulieren sei doch auch in der Wissenschaft wichtig. Weiblich, ostdeutsch, akademisch erfolgreich, menschlich zugänglich – angesichts so vieler Qualitäten verwundert, mit welcher Achtlosigkeit die Parteiprominenz ihr neues Talent behandelt. In den Medien wird sie bereits als mögliche Wissenschaftsministerin in Thüringen gehandelt, doch die Oberen aus CDU und CSU machen sich nach kurzem Händedruck zum Empfang mit Lachshäppchen und Käfer-Sekt auf.

Die Kandidatin Schipanski dreht derweil mit stoischer Freundlichkeit ihre Interviewrunden durch die Fernsehstudios in der Wandelhalle. Ja, sie gehe zurück an die Universität nach Ilmenau, der Wissenschaftspolitik werde sie sicher „treu bleiben“, Fragen nach konkreten Posten oder Ambitionen weicht sie aus. Erst ganz gegen Ende des langen Nachmittags, als sie schon halb auf dem Weg zu 2S 036 ist, rutscht ihr heraus: „Vielleicht kriege ich noch mal eine Chance.“