„Rau will es allen recht machen“

■ Dietrich Kuessner, Pfarrer der evangelischen Gemeinde Offleben in Niedersachsen, zur pastoralen Rhetorik des künftigen Bundespräsidenten

taz: Merkt man Johannes Rau an, daß er in einem Pastorenhaushalt aufgewachsen ist?

Dietrich Kuessner: Ja, das merkt man. An seinem predigenden Tonfall ohne Ecken und Kanten, ohne Schärfe, an diesem versöhnlerischen Ton. Seine inhaltliche These: Versöhnen statt spalten, so redet er auch.

Was ist der Unterschied zwischen dieser pastoralen Rhetorik und einer politischen Rhetorik?

Über dem Ganzen liegt für mich eine große Unehrlichkeit. Wenn Rau beispielsweise Schröder bittet, er solle doch auf diplomatischem Weg den Krieg ruckzuck beenden, dann heißt das doch, erst beten, dann bomben, dann wieder beten. Diese verheerende Mischung, daß er nicht nein sagen kann zu den Bomben, das ist typisch pastoral. Dieses Versöhnen heißt, man will die unmöglichsten Gegensätze zusammenbringen. Und das geht nicht. Dieser Gestus, wir bringen alles unter einen Hut, das ist das Verhängnisvolle an diesem Pastoralen.

Ein typischer Satz aus der Versöhnungsrhetorik von Johannes Rau lautet, er wolle ja sagen zu Konflikt und Konsens, aber nein zu Konfrontation und Fundamentalismus.

Da wirft er furchtbar viel durcheinander. Mit dem Fundamentalismus, diese Ablehnung kann man noch verstehen, weil das ja als Fanatismus gilt. Aber was hat Fundamentalismus mit Konfrontation zu tun? Und was ist der Unterschied zwischen Konflikt und Konfrontation? Da wird es unscharf. Er will sich eben drücken vor dem Nein, will sagen: ja zu Konflikten, aber keine Konfrontation. Es heißt auf deutsch, er will es allen recht machen.

Rau sprach öfter von der „Barmherzigkeit“ in der Politik.Verschleiert er auch damit Konflikte?

Die Barmherzigkeit ist ja ein ganz urchristlicher Begriff. Aber eben auch sehr verfänglich. Barmherzigkeit – das kann auch diese unerträgliche Toleranz sein, diese herablassende Toleranz gegenüber Minderheiten, gegenüber der sogenannten Dritten Welt, die in sich schon die Botschaft trägt: Eigentlich gehört ihr nicht dazu. Aber wir holen euch aus Barmherzigkeit dann doch rein. Ihr dürft mitessen, aber nur auf dem Teppich.

In seiner Dankesrede erregte er den Unwillen der CSU, als er sich explizit auch an die Ausländer in Deutschland wandte.

Diese Sache in seiner Dankesrede „die Würde des Menschen ist unantastbar, nicht nur die Würde der Deutschen“, das ist inzwischen ein Kalauer, das haben wir auf x Kirchentagen gehört, das ist abgegriffen, typisch pastörlich. Man kennt das so, dieses Beklatschen von Selbstverständlichkeiten der Verfassung. Männer und Frauen sind gleichberechtigt, sagt Rau. Und dann klatschen sie, diese Idioten.

Wie müßte Rau statt dessen sprechen?

Er müßte beispielsweise sagen: Es gibt unendlich benachteiligte Frauengruppen, und dieses muß aufhören, und das will ich als Bundespräsident euch mal ins Stammbuch der Politik schreiben. Aber er ist unfähig, ein kritsches Wort anzumerken.

Was glauben Sie, warum gerade jetzt ein Mann wie Johannes Rau, der völlig ohne Aggression zu sein scheint, zum Bundespräsidenten gewählt wurde?

Er ist ideal für die Aggressionen, die wir in der Wirtschaft, in der Politik beobachten. Denn Rau tut keinem weh. Er setzt sich an einen Tisch mit allen, und alle kommen und machen gleichzeitig weiter wie bisher.

Rau spricht ja oft auch mit einer Demutsrhetorik. Er sagte einmal, das Amt des Bundespräsidenten in einer Demokratie sei Dienst, nicht Krönung.

Das ist die andere Schwäche dieser Wahl: Er hat es nun ja wirklich gewollt. Das ist so wie der Bischof, der im Vorfeld alle Figuren stellt, damit er gewählt wird, dann aber sagt: Gott hat mich gerufen. Na, Rau hat eben Leute gefunden, die das mitmachen. Interview: Barbara Dribbusch