Tödliche Strahlen in der Uni-Klinik

Über Jahre hinweg bestrahlten Krebsärzte am Hamburger UKE ihre Patienten mit einer zu hohen Dosis. Erst nach diesem Skandal verabschiedeten die deutschen Strahlentherapeuten neue Standards  ■   Von Friedrich Hansen

Die Jahrzehnte der Ungewißheit über die geeignete Strahlendosis für dieKrebsheilung scheinen vergangen. Denn erstmalig diskutieren die deutschen Strahlentherapeuten über Leitlinien. Sie sollen nach und nach verläßliche Maßstäbe dafür liefern, was als Therapiestandard in der heutigen Strahlenheilkunde gelten soll.

Endlich gewinnt das Fach – mit gehöriger Verspätung – Anschluß an die internationale Entwicklung. Hätte es derartige Leitlinien schon früher gegeben, wären uns vermutlich zwei Strahlenskandale erspart geblieben, welche die Hansestadt Hamburg seit fünf Jahren in Atem halten. Zumindest aber, so glauben viele Beteiligte, trägt das Fehlen von Standards Schuld daran, daß der Hamburger Senat bei der Abwicklung der Strahlenschäden so schleppend vorankommt. Denn im nunmehr sechsten Jahr der außergerichtlichen Regulierungen warten noch gut die Hälfte der Geschädigten auf einen Bescheid – für viele Patienten kommt er indes zu spät.

Ausgelöst hatte den Skandal die Hamburger Morgenpost im Sommer 1993 mit der Schlagzeile: „Tödliche Strahlen im UKE?“ Bald darauf formulierten Politiker vorsichtiger, Ärzte in der Strahlenklinik des Universitätskrankenhauses in Hamburg-Eppendorf (UKE) hätten zwischen 1986 und 1990 mit überhöhten Strahlendosen experimentiert, ohne ihre Patienten darüber aufzuklären und ohne eine Ethikkommission einzuschalten. Bei Bestrahlungen des Enddarms und der Speiseröhre etwa war es zu schweren strahlenbedingten Verbrennungen der inneren Organe und der Haut gekommen.

Verantwortlich dafür ist der inzwischen suspendierte Chefarzt der Strahlenklinik, Klaus-Henning Hübener. Die Strahlenschäden waren immerhin so auffallend, daß die umliegenden Hamburger Kliniken sich beschwerten und kaum noch Patienten schickten. Noch während im Sommer 1993 die Medien über den Hübener-Skandal berichteten, meldeten sich auch Patientinnen der Frauenklinik des UKE, die damals noch über eine eigenständige Strahlenabteilung verfügte – unter der Leitung von Hans-Joachim Frischbier.

Von den wegen einer brusterhaltenden Operation nachbestrahlten Frauen klagten einige über Schmerzen und unförmige Schwellungen der Arme: mögliche Folgen einer überhöhten Strahlendosis. Andere konnten ihren Arm nicht einmal mehr bewegen, weil die Strahlen den Nervenstrang des Oberarmes verkocht hatten. Zwar können Lymphstauungen und Lähmungen auch durch den Krebs selbst hervorgerufen werden – was die rückwirkende Beurteilung erschwert. Doch invielen Fällen, soviel steht inzwischen fest, hat Frischbier die Strahlendosis zu hoch angesetzt.

Die von ihm bevorzugte Dosis von 2,5 Gray jedenfalls, an vier Tagen wöchentlich über fünf Wochen verabreicht, gestatten die neuen Leitlinien nicht mehr, sagt Rolf-Peter Müller, Chef der Strahlentherapie der Universität zu Köln: „Es dürfen künftig nicht mehr als zwei Gray an fünf Wochentagen sein.“ Eine knappe Gratwanderung zwischen Therapiestandard und Behandlungsfehler. Die Klarheit dieser Grenzmarkierung ist das Ergebnis eines langjährigen Ringens innerhalb der Strahlentherapeuten um Standards. Anfänglich verrieten die Reaktionen der Ärztezunft auf die Behandlungsfehler der beiden Chefärzte noch große Unsicherheit: Während die Deutsche Röntgengesellschaft den unbedeutenden Hübener auf einer Pressekonferenz sofort fallen ließ, hielt sie sich im Fall der Koryphäe Frischbier auffallend zurück.

Energischer reagierte der Hamburger Senat, nachdem Erwin Deutsch, der angesehene Göttinger Hochschullehrer und Spezialist für Arzthaftung, einen zivilrechtlichen Großschaden bejaht hatte: „Da kommt ihr nicht raus!“ Bald darauf begann der zuständige Senator, Leonard Hajen, mit der unbürokratischen Abwicklung nach dem Hamburger Modell. Das bedeutete umgehende Abschlagszahlungen, sobald aufgrund von medizinischen Gutachten ein Schaden beim Patienten festgestellt war – wenn auch nicht immer in einem juristisch einwandfreien Sinne. Seit 1993 sind weit über 600 Schadensmeldungen eingegangen. Davon hat die Wissenschaftsbehörde bislang 370 anerkannt und in das Abwicklungsverfahren übernommen, 160 entfallen auf Hübener – der Fall ist damit so gut wie abgeschlossen – und 210 auf Frischbier.

Die Betroffenen erhalten im Durchschnitt eine Entschädigung von 25.000 Mark. Insgesamt sind dafür bislang 25 Millionen Mark aus dem Haushalt der Universitätsklinik geflossen, der zu 80 Prozent von den Krankenkassen finanziert wird. Alles in allem, so schätzen die Verantwortlichen, wird das UKE über 100 Millionen Mark zahlen müssen – bei einem Jahreshaushalt von 800 Millionen. Wie richtig die Behörde mit der unbürokratischen Abwicklung lag, zeigt die inzwischen vorliegende wissenschaftliche Auswertung. Vladimir Swoboda, der aus England bestellte Experte, präsentierte im Februar diesen Jahres dazu erste Ergebnisse. Deutlich fiel sein Urteil über Hübeners Sandwich-Methode bei Enddarmkrebs aus, bei der vor und nach der Operation bestrahlt wird. Deren Nutzen habe in keinem vertretbaren Verhältnis zu den katastrophalen Nebenwirkungen gestanden, sagte Swoboda. Zu diesen zählen eiternde und oft nicht mehr heilbare Darmgeschwüre ebenso wie Darmfibrosen, die mit krampfartigen Schmerzen einhergehen.

Zuweilen kommt es durch die Verbrennung des inneren Gewebes auch zu offenen Durchbrüchen vom Darm zur Scheide oder in die Harnblase. Bei den 64 Sandwich-Patienten, so fand Swoboda heraus, zeigten sich schwere Nebenwirkungen bei horrenden 85 Prozent. Darüber hinaus werden elf Todesfälle mit der Bestrahlung in Verbindung gebracht. Unter dem Eindruck dieser Daten folgte Krista Sager, seit vorigem Herbst amtierende grüne Wissenschaftssenatorin, denn auch der Politik ihres Vorgängers Hajen.

Gegen diese Schadensbilanz argumentieren die Anwälte der beschuldigten Ärzte: Bislang sei kein einziger Fall definitiv vor Gericht entschieden worden. Dagegen ist einzuwenden, daß 90 Prozent der Behandlungsfehler hierzulande ohnehin außergerichtlich geregelt werden. Anders ist das gar nicht machbar. Die Gegenpartei, Patientenanwalt Wilhelm Funke, mahnt wiederum unaufhörlich eine strafrechtliche Verurteilung der Ärzte an, die gleichwohl als ziemlich chancenlos gilt. Denn im Strafverfahren sind die Beweisanforderungen ungleich höher als im Zivilrecht, gilt doch hier immer noch der Grundsatz: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. So hat denn auch die Hamburger Staatsanwaltschaft die meisten der insgesamt 209 Strafverfahren gegen Hübener eingestellt. Gleiches gilt für Frischbier.

Unterdessen tun sich die Gutachter noch schwer mit der haftungsrechtlichen Seite im Frischbier-Komplex. Ihm wird vorgeworfen, zu hohe Strahlendosen verabreicht und die wissenschaftliche Entwicklung der 80er Jahre verschlafen zu haben. Zwar ist die Datenlage dafür im Vergleich zu Hübener einstweilen noch dürftig. Unbestritten ist jedoch, daß Frischbier wiederholt Grenzwerte der Strahlendosis ignorierte, die er selbst zuvor als Oberhaupt der strahlenkundigen Frauenärzte aufgestellt hatte. Doch genau hier fängt die Geschichte an, spannend zu werden, denn Frischbier ist offenbar kein Einzeltäter gewesen.

Während der 60er Jahre hatten Strahlentherapeuten weltweit begonnen, die nötige Strahlendosis kompakter zu verabreichen, um effizienter zu sein. Man experimentierte mit höheren Einzeldosen an weniger Tagen, um mehr Patienten durchschleusen zu können. Es stellte sich aber heraus, daß dabei Nebenwirkungen dramatisch zunahmen. So kehrten die meisten Strahlentherapeuten reumütig zu der alten Methode zurück. Doch in Deutschland hielten vermutlich einige an den hohen Strahlendosen fest – nicht nur Hübener und Frischbier. Dem Wissenschaftsausschuß der Hamburger Bürgerschaft gelang es allerdings in vier Jahren nicht, zu klären, wie viele oder gar welche Kliniken noch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ebenso hoch und riskant bestrahlt haben wie Frischbier.

Eine Erklärung dafür bietet die Tatsache, daß sich hierzulande das Fach Strahlentherapie mit jahrzehntelanger Verspätung etabliert hat – Anfang der 90er Jahre. Die meisten der Schadensfälle indes, die Frischbier angelastet werden, ereigneten sich zwischen 1987 und 1993. „Ein bißchen Heuchelei ist dabei im Spiel“, sagt ein Mitarbeiter der Hamburger Wissenschaftsbehörde, der es wie viele andere Gesprächspartner in dieser Angelegenheit vorzieht, ungenannt zu bleiben, „denn das Versagen einer ganzen Fachgruppe wird tabuisiert.“ Und aus dieser ist zu hören, niemand habe gewagt, Frischbier beizeiten zu kritisieren. Nicht auszudenken, wie viele Patienten bundesweit möglicherweise ebenfalls geschädigt sind, die jedoch nie Schadensersatz erhalten werden.

Da nimmt sich das britische Gegenbeispiel deutlich anders aus. Bei dem Strahlenskandal, der ebenfalls seit fünf Jahren auf den Britischen Inseln die Gemüter bewegt, geht es zwar auch um überhöhte Strahlendosen bei Brustkrebs. Doch anders als hierzulande verteilen sich dort über einhundert Fälle ziemlich gleichmäßig auf rund vierzig Kliniken – ein Indiz für einen von der gesamten Zunft unterstützten Reformprozeß. Hierzulande kam hingegen der Reformstau der Strahlenheilkunde mit dem UKE-Skandal schlagartig ans Tageslicht, und kaum daß er bundesweit Schockwellen in der Fachwelt ausgelöst hatte, wurde er auch schon personalisiert. Und zwar ganz offen bei dem Außenseiter Hübener, verdeckt dagegen bei Frischbier, der als Doyen der deutschen gynäkologischen Radiologen ganz allmählich in den Brennpunkt dieser dramatischen Entwicklung geriet.

Aus dessen Umgebung ist zu vernehmen, er stehe heute verbittert vor den Trümmern seines Lebenswerkes. Die Behauptung von Frischbiers Verteidigern, er könne seine Fehler mit überdurchschnittlichen Bestrahlungserfolgen beim Unterleibskrebs aufwiegen, hält einer ersten Überprüfung nicht stand: Frischbier erreichte bei diesen Patientinnen – im dritten Tumor-Stadium – nur eine Überlebensrate von 30 Prozent in fünf Jahren, während diese bei großen Zentren in Japan und den USA zur gleichen Zeit zwischen 40 und 50 Prozent lag.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Frischbier-Komplexes wird erst in drei Jahren abgeschlossen sein. Erst dann wird man sehen, wo Frischbier mit seinen Heilerfolgen und Nebenwirkungen im internationalen Vergleich steht. Denn eine völlig gefahrlose Strahlentherapie bei Krebs gibt es ebensowenig wie einen risikolosen chirurgischen Eingriff. Michael Molls, Chef der Münchner Strahlenklinik rechts der Isar, fragt: „Wer legt eigentlich fest, wie hoch die Komplikationsrate bei Bestrahlungen sein darf, die wir in Kauf nehmen?“

Dieser Vergleich drängt sich vor allem deswegen auf, weil man seit Mitte der 80er Jahre im Rahmen der brusterhaltenden Therapie bei Krebs auf eine Radikaloperation der Brust nur deshalb verzichten kann, weil eine Bestrahlung den Heilerfolg sichert. Damit hat man also Verantwortung von den Chirurgen auf die Strahlentherapeuten übertragen. Molls wünscht sich über diese Frage eine öffentliche Debatte, weil er fürchtet, daß das derzeitige Klima viele Strahlentherapeuten veranlaßt, übervorsichtig zu dosieren und dabei schlechtere Heilungsraten in Kauf zu nehmen. Dies zu verhindern könnte die Aufgabe der neuen Leitlinien sein.