„Mehr Suchprozeß als Aufbruch“

■ Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) über den aktuellen Zustand ihrer Partei, die Bedeutung von Dagmar Schipanskis Kandidatur und einen noch immer hofhaltenden Helmut Kohl

taz: Am 13. Juni sind Europawahlen. Von der CDU hört man wenig. Sind die Damen und Herren nach 16 Jahren Regierung erst einmal ins Sanatorium gegangen?

Rita Süssmuth: Wenn eine Partei nicht mehr regiert, fällt sie aus dem Brennpunkt der Öffentlichkeit heraus. Nach dem Regierungsverlust mußte sich die CDU zunächst personell neu organisieren. Das CDU-Zukunftsprogramm war vor den Wahlen geschrieben, jetzt geht es um die konkreten Antworten. Da stehen wir leider erst am Beginn der konkreten Bearbeitung.

Der Parteichef Schäuble bringt im Moment wenig davon über die Rampe. Der CSU-Vorsitzende Stoiber hingegen kommt überaus gut an.

Ich reihe mich nicht in die Reihe derjenigen ein, die da sagen, wir haben den glänzenden Stoiber, Schäuble zählt nicht mehr. Schäuble ist ein glänzender Denker und Redner, aber nicht jede Rede kann immer ein Glanzpunkt sein.

Könnte die Kanzlerkandidatenfrage in der CDU/CSU in drei Jahren noch mal neu gestellt werden?

Das kann man heute nicht sagen. Aber auch wenn jemand für eine bestimmte Zeit verhaltener sein sollte, mindert das nicht seine Qualität.

Warum ist Schäuble momentan so verhalten?

Ist er das? Er ist ja ständig in den Medien präsent. Andererseits erwartet die Öffentlichkeit konzeptionelle Entwürfe der CDU. Die sind erst im Entstehen. Unsere Position zur Steuerpolitik ist klar.

Auch die Bundestagsfraktion ist auffällig still. Herrscht bei den Abgeordneten die große Ratlosigkeit?

Nein. Aber ich erlebe in der Fraktion mehr Suchprozeß als Aufbruch. Vielfach höre ich, wir haben keine Regierungsverantwortung mehr, jetzt laßt doch erst mal die anderen kommen. Die Vorsicht geht bei einigen sogar so weit, daß sie die derzeitigen guten Umfrageergebnisse nicht gefährden wollen und schweigen. Wenn man sich positioniert, wird man ja auch wieder angreifbar. Mich drängt es hingegen zu wissen: Wo sind unsere Lösungen? Ich will, daß wir nicht nur aufgrund der Schwächen der anderen attraktiv sind, sondern aufgrund der eigenen Stärken.

Welche Themen stehen auf dem Unterrichtsplan?

Wir haben den radikalen Wandel im Arbeitsleben nicht in seiner Radikalität thematisiert und neue Instrumente entwickelt. Arbeit und Sozialversicherung sind mehr und mehr voneinander abgekoppelt. Wir müssen fragen: Was bedeutet das für die veränderte Organisation der Arbeitswelt, insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme?

In Zeiten der Arbeitslosigkeit und geringeren sozialen Absicherungen können Frauen dabei aber auch leicht an Heim und Herd zurück gedrängt werden.

Auf den Zug darf die CDU auf keinen Fall aufspringen. Arbeit für alle, muß unsere Antwort bleiben. Keine Lösungen von gestern: Die helfen weder den Frauen noch den Familien. Da müssen Frauen solidarischen Widerstand leisten.

Die jungen Wilden sind mittlerweile ehrbare Familienväter um die 40 Jahre. Wo sind die jungen Frauen?

Für mich ist jung nicht biologisch definiert. Aber dennoch: Ein Zeichen der jetzigen jungen Generation ist ihr Pragmatismus. Sie sind interessiert, engagiert. Doch manche trauen sich zu wenig, ekken kaum an. Junge Abgeordnete müssen Profil zeigen. Auf lange Sicht lohnt es sich. Zukunft ist unbequem. Das gilt für Frauen und Männer. Wir Frauen sind mehr geworden, aber es fehlt uns nach wie vor an politischer Macht. Als ich 1987 in den Deutschen Bundestag kam, hatten wir nicht viel mehr Frauen als 1919 im Reichstag, nämlich um die zehn Prozent. Heute liegen wir bei 33 Prozent Frauen im Deutschen Bundestag.

I m gesamten Bundestag. Aber von diesem Wert ist die Fraktion der CDU/CSU noch Lichtjahre entfernt.

Ja. Die Fraktionsgemeinschaft der CDU/CSU bildet mit 19 Prozent immer noch das Schlußlicht. Eine Frau, eine Naturwissenschaftlerin, als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen, das war und ist für uns ein großer Durchbruch. Auch wenn Dagmar Schipanski dieses Mal noch nicht zum Zuge gekommen ist, ist das ein wichtiger Etappensieg.

Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl war ja nicht immer ungetrübt. Hemmt der frühere Bundeskanzler, da er noch immer in den Gremien sitzt, die Diskussionsfreude durch seine bloße Anwesenheit?

Niemand weiß besser als er, was man auch danach bewirken kann. Und das tut er. Er gibt Rat, und der neue Vorsitzende Wolfgang Schäuble hört auch auf seinen Rat. Natürlich hält er auch hof mit seinen Leuten, Getreuen wie Rudi Seiters und Christoph Böhr und anderen. Kohl ist wie früher. Er hat sie alle gerne um sich. Aber ich glaube nicht, daß das unsere Ausstrahlung schwächt. Interview: Annette Rollmann