Eskalation in Kaschmir

Indien setzt Luftwaffe gegen Rebellen ein und wirft Pakistan Grenzverletzung vor  ■   Aus Delhi Bernard Imhasly

An der indisch-pakistanischen Grenze in Kaschmir hat Indien gestern zum ersten Mal im zehnjährigen Bürgerkrieg die Luftwaffe gegen Rebellen eingesetzt. 680 schwerbewaffnete Kämpfer sollen nach Angaben des indischen Heereskommandos vor drei Wochen von Pakistan aus die Waffenstillstandslinie bei Kargil überschritten haben. Sie hätten sich sechs Kilometer tief im indischen Territorium auf vier Bergen in 4.500 Meter Höhe festgesetzt. Die Eindringlinge seien keine herkömmlichen Untergrundkämpfer, sondern gut gerüstete und gut trainierte Einheiten, die es auf die Kontrolle von Terrain abgesehen hätten.

Die vier Berge liegen in der Region des Dras-Tals an einem sensiblen Punkt der Waffenstillstandslinie. Die Straße von Srinagar nach Ladakh führt hier nahe der Kontrollinie zwischen hohen Gebirgskämmen hindurch. Dieses Hochtal – das kälteste auf indischem Territorium – ist acht Monate im Jahr von Srinagar aus nicht zugänglich und wird daher auch nicht observiert. Doch Dank früher Schneeschmelze konnte der Zugang dieses Jahr bereits Ende April geöffnet werden. Dies führte zur Entdeckung der Eindringlinge, worauf Indien 30.000 Soldaten nach Kargil und Dras sandte. Gestern früh wurden sie in drei Einsätzen von Kampjets und -helikoptern unterstützt, eine zweite Angriffswelle erfolgte nachmittags.

Pakistan hatte sich zuerst nicht zu den Gefechen der letzten Tage geäußert, auch Indien hielt sich zurück. Doch mit den Lufteinsätzen eskaliert jetzt auch der Krieg der Worte. Noch am Dienstag warnte Indiens Premierminister A.B. Vajpayee seinen pakistanischen Amtskollegen Nawaz Sharif vor Übergriffen auf indisches Territorium. Nach einer Sondersitzung des pakistanischen Kabinetts warnte Außenminister Sartaj Aziz gestern seinerseits Indien vor Angriffen auf pakistanisches Gebiet und drohte mit Vergeltung. Pakistan versetzte seine Armee in „höchste Alarmbereitschaft“. Nach pakistanischen Angaben schlugen indische Bomben im pakistanischen Teil Kaschmirs ein, verursachten aber keine Schäden.

In Delhi fragt fragt man sich, warum Pakistan derart schwerwiegend gegen die Abmachung des Gipfeltreffens von Lahore im Februar verstößt. Handelt es sich um eine Armeeoperation, in die die Regierung in Islamabad nicht eingeweiht war? Auch pakistanische Zeitungen spekulieren über eine Aktion des militärischen Geheimdienstes ISI. Mit den Luftschlägen zeigt Indien nun, daß es auch eine Abkühlung des ohnehin angespannten Verhältnisses hinnehmen würde. Delhi rätselt auch über das strategische Ziel. Man hatte zwar nicht erwartet, daß Islamabad auf die Infiltration von Untergrundkämpfern ganz verzichten würde. Doch eine Besetzung indisch kontrollierten Gebiets gab es seit 1965 nicht mehr. Vielleicht sollte die eingeschleuste Truppe die Straße nach Leh unterbrechen. Damit hätte sie Indiens Armee die wichtigste Versorgungslinie für ihren Hochgebirgskrieg am Siachen-Gletscher abgeschnitten. Andere spekulieren über eine Strategie, die Indien bereits 1984 in Siachen erfolgreich demonstriert hatte. Damals konnten sich dessen Truppen durch die Besetzung der Saltoro-Anhöhe in 6.000 Meter Höhe einnisten, von wo aus sie die Pakistaner nicht mehr vertreiben konnten. Im indischen Teil Kaschmirs kämpfen seit Ende der 80er Jahre von Pakistan unterstützte Guerillagruppen gegen die Zentralregierung. Sie streben die Unabhängigkeit oder Vereinigung mit Pakistan an. Jammu-Kaschmir ist Indiens einziger Bundesstaat mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Indien und Pakistan, die vor einem Jahr Atombomben testeten, kämpften zwei ihrer drei Kriege um Kaschmir.