„Herr Präsident“ hört am liebsten zu

Bei den Wahlen in Südafrika nächste Woche gewinnt der regierende ANC sowieso. Daher ist der Wahlkampf weniger ein Wettbewerb der Parteien als eine Tribüne für die leidende Volksseele    ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler

Dem kleinen Jungen stehen Tränen in den Augen. „Meine Mutter ist arbeitslos, mein Vater ist arbeitslos“, sagt er mit zitternder Stimme. „Was bleibt uns anderes übrig, als zu stehlen, damit wir überhaupt etwas zu essen bekommen?“ Der etwa zehnjährige David Thembela ist mutig. Er wagt es, auf einer ANC-Wahlveranstaltung vor Hunderten von Zuhörern zu reden. In der Onkel-Tom-Halle im Johannesburger Township Soweto wird beifällig genickt und stürmisch geklatscht. „Bitte Herr Präsident, geben Sie unseren Eltern Arbeit, damit wir etwas zu essen bekommen“, fleht er am Ende seiner kleinen Rede unter Tränen.

Oben auf dem Podium sitzt der „Herr Präsident“, der es noch nicht ist, und macht sich Notizen. Thabo Mbeki, der im Juni Nelson Mandelas Nachfolge als Präsident von Südafrika antreten wird, absolviert in den letzten Wochen des Wahlkampfs ein Mammutprogramm. Er selbst spricht an diesem Tag nur wenig. „Herr Präsident“ hört zu. In der Halle sind ausschließlich ANC-Anhänger, mit ihren Regierenden aber gehen sie hart ins Gericht. „Unsere Polizei ist verrottet und korrupt“, klagt ein Mann. Eine alte Frau erzählt weinend, wie ihr die Polizei nach dem Tod ihres Mannes ihr Taxi wegnehmen wollte und dann Schutzgeld dafür verlangte, daß sie es behalten durfte.

Nicht nur in den reichen weißen Vororten, auch in den Schwarzensiedlungen Südafrikas ist die alltägliche Gewalt ein höchst emotional aufgeladenes Thema. Noch immer schlägt die Kriminalitätsstatistik Südafrikas jeden Rekord. Alle 17 Sekunden wird ein Gewaltverbrechen begangen, alle halbe Stunde ein Mord, alle zwei Minuten in ein Haus eingebrochen, alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt. Dazu kommen die immer noch hohe Arbeitslosigkeit und die Wohnungsnot.

Allzu euphorisch ist die Stimmung deshalb vor Südafrikas zweiten demokratischen Wahlen am 2. Juni nicht. Eher herrscht Gelassenheit. „Wir haben jetzt eine gute Demokratie, und die werden wir auch behalten“, sagt Rita Mhlope in der Halle in Soweto. Von einem Präsidenten Thabo Mbeki erwarten die ANC-Anhänger vor allem, daß endlich ihre Lebensverhältnisse besser werden, so wie es der ANC vor fünf Jahren versprochen hatte.

Selbst Oppositionspolitiker müssen einräumen, daß fünf Jahre nicht ausreichen, um das Apartheid-Erbe auch nur halbwegs zu überwinden, und die Bilanz des ANC läßt sich in einigen Bereichen durchaus sehen. 63 Prozent aller Südafrikaner haben nun Strom – doppelt so viele wie 1994. Drei Millionen Menschen haben in den letzten fünf Jahren Zugang zu sauberem Wasser erhalten, 1,5 Millionen Kinder mehr als vor fünf Jahren können heute in die Schule gehen, und für bedürftige Kinder unter sechs Jahren und schwangere Frauen ist ärztliche Behandlung kostenlos. Der ANC hat Hunderte von Schulen und kleinen Kliniken auf dem Land bauen und etwa eine halbe Million kleiner Häuser errichten lassen.

Daß das alles bei weitem nicht ausreicht, weiß der künftige Präsident Mbeki. Nicht zu Unrecht befürchten viele Weiße, daß es nach Mandelas Abtritt womöglich ans Umverteilen geht. Unkenrufe, daß Südafrika nun endgültig den Weg anderer afrikanischer Staaten gehen werde, gehören zum guten Ton jeder Unterhaltung unter Weißen. Schwarze indessen blicken der Zukunft überwiegend optimistisch entgegen und werden es dem ANC danken, indem sie ihn wiederwählen.

Noch immer sind fast alle südafrikanischen Parteien an Rassengrenzen entlang definiert. „Den Mut zurückzuschlagen“ plakatiert die liberale „Demokratische Partei“ unter ihrem eloquenten Vorsitzenden Tony Leon. „Wen wollen sie damit treffen“, fragt der ANC prompt zurück, „die Demokratie oder die schwarze Mehrheit?“ Umfragen zufolge allerdings könnte die DP, die 1994 nicht einmal zwei Prozent gewann, auf dem Weg zur zweitstärksten politischen Kraft im Land sein – vor der Inkatha-Freiheitspartei (IFP) und der „Nationalpartei“ (NP) der ehemaligen Machthaber. Der hat die Umbenennung in „Neue Nationale Partei“ (NNP) wenig geholfen. Ihr neuer Vorsitzender Marthinus van Schalkwyk hat etwa so viel Charisma wie ein Ortsvorsitzender der Jungen Union.

Weil es der NNP an Themen fehlt, hat sie sich populistisch auf die hohen Kriminalitätsstatistiken gestürzt. „Hängt Mörder und Vergewaltiger“ fordert sie auf ihren Wahlplakaten und weiß sich dabei durchaus von einer Mehrheit aller Südafrikaner unterstützt. Trotzdem läuft sie Gefahr, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken.