Ein Idol geht in den Ruhestand

Kommende Woche wird in Südafrika ein neues Parlament gewählt, 14 Tage später der neue Präsident vereidigt. Thabo Mbeki steht als Nachfolger Nelson Mandelas bereits fest und hat längst den Großteil der Geschäfte übernommen. Jetzt erhofft sich einer der berühmtesten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts etwas ganz Neues. Der mehr als achtzigjährige Mandela, der innerhalb und außerhalb Südafrikas bis heute als Idol der Befreiung und Garant der Versöhnung verehrt und bewundert wird,plant sein Privatleben. En Porrät  ■ von Kordula Dörfler

Der kleine Mann in der scharlachroten Robe hüpft so aufgeregt hin und her wie ein Kind. Es ist einer dieser klaren sonnigen Tage im südafrikanischen Herbst, mit einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Die Konturen des Tafelbergs sind scharf, wie ziseliert. Zu seinen Füßen, auf einem der großen Plätze Kapstadts, haben sich Zehntausende von Menschen versammelt. Auf dem Balkon der City Hall vergißt Desmond Tutu wieder einmal seine ganze bischöfliche Würde. Seine Stimme überschlägt sich, als der Erzbischof von Kapstadt den neuen Präsidenten des Landes vorstellt: Nelson Rolihlahla Mandela. „Das ist der Moment, auf den wir seit über 300 Jahren gewartet haben“, ruft Desmond Tutu völlig außer sich.

Wir schreiben den 9. Mai 1994, in Südafrika eine Zeit der Superlative. Zwei Stunden zuvor ist Mandela vom ersten demokratischen Parlament Südafrikas zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt worden. Einen Tag später, am 10. Mai, wird er in Pretoria als Präsident vereidigt werden. Nur zwei Wochen vorher hat sich das Wunder der ersten freien Wahl ereignet, in der der Afrikanische Nationalkongreß einen überwältigenden Sieg errungen hat. Nelson Mandela, der 27 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, hat den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht. Südafrika feiert, und die Welt feiert mit.

Oben, auf dem Balkon, kann Desmond Tutu nicht stillstehen. Sein neuer Präsident indessen bleibt ruhig, fast unbewegt. Erst als die beiden Kämpfer gegen das Apartheid-Regime sich die Hände reichen, strahlt Mandela endlich. „Volk von Südafrika, das ist dein Sieg“, ruft er hinunter. „Es ist ein Sieg aller, Schwarzer, Weißer, Inder und der Farbigen.“ – „Die friedliche Transformation ist das Werk vieler: Schwarzer, Farbiger, Weißer und Inder“, sagt der gleiche Mann fünf Jahre später. Die Szenerie ähnelt sich, nur der Ort ist nicht der gleiche. Über Johannesburg strahlt ein tiefblauer Herbsthimmel. Tausende von begeisterten Anhängern haben auf einem Platz in der Innenstadt längst die Absperrungen gesprengt, um ihn, Madiba, noch ein letztes Mal zu sehen. Es ist der fünfte Jahrestag von Mandelas Ernennung, und kurz vor den zweiten demokratischen Wahlen nimmt Madiba, wie ihn die Südafrikaner liebevoll bei seinem Stammesnamen nennen, Abschied. Der 80jährige hält, ganz unafrikanisch, sein Versprechen und räumt seinen Platz für seinen Nachfolger, „den jungen Mann“ Thabo Mbeki.

Zwar ist die Zeit der Superlative längst vorbei, und der ANC hat lernen müssen, daß Regieren ein mühsames Geschäft ist, erst recht, wenn man einen Staat wie den südafrikanischen geerbt hat. Nelson Mandelas und Desmond Tutus Traum von einer friedlichen Regenbogennation ist bislang nur ein schöner Traum geblieben. „Madiba-Magic“ aber wirkt wie eh und je. Die Bodyguards des Präsidenten sind in Schweiß gebadet, ihre gepanzerten Fahrzeuge in einer bedrohlichen Menschenmenge eingekeilt, die Polizei machtlos. Die geplante Konfetti-Parade durch Johannesburg muß ausfallen, weil die Organisatoren hoffnungslos überfordert sind, später wird sogar Tränengas eingesetzt. Dabei hat Madiba heute nicht einmal das getan, was er so liebt: Protokollchefs an den Rande des Herzinfarkts zu treiben, indem er sich zu Fuß unters Volk mischt, jegliche Sicherheitsvorschriften mißachtend.

Fünf Jahre Präsidentschaft haben Mandela altern lassen. Er geht schwer, wenn er aus einem Stuhl aufstehen oder Treppen steigen muß, spielen die Knie nicht mehr mit, die er sich damals, in der harten Haft auf Robben Island fürs Leben ruiniert hat. Doch gegenüber den Verführungen der Macht hat er sich als unanfällig erwiesen. Potenzgehabe und Protzerei anderer afrikanischer Präsidenten sind Mandela völlig fremd. Dafür hat er für jede Putzfrau im Hotel, für jede dreijährige Rotznase irgendwo auf dem Land ein freundliches Wort.

Nelson Mandela ist sehr menschlich und oft beschämend bescheiden geblieben. Nie läßt er zu, daß allein seine Verdienste gelobt werden, stets verweist er auf das Team, das hinter ihm steht. Dabei hat bis heute jeder Journalist weiche Knie, der ihm die Hand schütteln darf. So viel Größe macht einen berufshalber mißtrauisch: Ist der Mann nicht zu gut, um wahr zu sein? Versöhnung als Lebenswerk – kann, darf ein Politiker so sein? Einer, der in der Stunde seiner gößten Triumphe seinen Feinden zumindest symbolisch stets die Hand reicht und zur Versöhnung aufruft? Einer, der mit der Witwe des Mannes, der ihn einst umbringen lassen wollte, Tee trinkt? Einer, der die besten Jahres seines Lebens im Gefängnis verbracht hat, dessen Familienleben von der Apartheid zerstört worden ist, und trotzdem nie Bitterkeit oder gar Feindseligkeit zeigt? Einer, der leise vor Gericht sagt, nie sei er einsamer gewesen als damals, als er aus dem Gefängnis zu Winnie nach Hause kam? Einer, der später, mit 79 Jahren sagen wird, er sei in Liebe erblüht?

Am glücklichsten ist Nelson Mandela, wenn er so viele Kinder wie möglich um sich hat. Was bei Bill Clinton nichts als peinliche Pose ist, nimmt man Mandela gerührt ab – schließlich ist er selbst stets ebenso gerührt, auch nach Hunderten von Auftritten dieser Art. „Die Kinder sind unsere Zukunft“, sagt er dabei gern. Ein Drittel seines Gehalts fließt in einen nach ihm benannten Fonds für bedürftige Kinder.

Immerhin, nach fünf Jahren Präsidentschaft wissen wir – beruhigend – auch, daß Nelson Mandela Fehler hat und Fehler macht. Seinen Angestellten und Stäben gegenüber ist er oft höchst autoritär, und Fehler bei anderen erträgt er nur schwer. Eiserne Disziplin ist die Lebensmaxime von einem, der jeden Morgen um fünf Uhr aufsteht, weder raucht noch trinkt , von dem auch sonst keine Laster bekannt sind. Nur so überlebte er wohl bei ingesamt bester Gesundheit fast dreißig Jahre Haft, nur so schaffte er es, den zerstrittenen und über alle Welt verstreuten ANC zu einer nach außen oft allzu geschlossenen Organisation zusammenzuschweißen.

Seine Ratgeber und Minister hat Mandela indessen Dutzende Male in allergrößte Verlegenheit gebracht mit Äußerungen, die nicht besprochen waren oder gar nicht in seiner Befugnis lagen. Damit hat er nicht nur ihnen schlaflose Nächte bereitet, sondern auch viele seiner dienstälteren Kollegen in Afrika verprellt, die den Shooting-Star aus dem Süden ohnehin eifersüchtig beäugten. Da kommt einer aus dem Gefängnis, erzählt uns etwas von afrikanischer Renaissance und macht sich auch noch ständig als Vermittler wichtig? Selbst den mächtigsten Mann der Welt belehrt er darüber, was Demokratie ist. Man muß schon Nelson Mandela heißen, damit selbst ein Bill Clinton dabei rote Ohren bekommt.

Die Südafrikaner lieben ihren Präsidenten auch dafür, daß er sich so etwas traut. Endlich sind wir jemand auf der Welt. Dafür ist Madiba in der südafrikanischen Öffentlichkeit so gut wie sakrosankt. Obwohl er immer wieder gegen die überwiegend weiße Presse wettert, behandelt sie ihn mit einer Sanftmut, von der Staatschefs in anderen demokratischen Ländern nur träumen können. Selbst sein Hang zum Autokratischen wird ihm großzügig nachgesehen.

Das Regieren hat er allerdings längst Thabo Mbeki überlassen und sich in die Rolle des Elder statesman zurückgezogen. „Ich bin kein Demokrat“, sinnierte er einmal im Scherz. „Das kann man von einem, der so lange im Gefängnis war, doch auch nicht erwarten. Unsere Umgangssprache war die zwischen Wärtern und Häftlingen, wir kannten nichts außer Befehlen.“ Dabei lacht er charmant und meint es doch auch ein bißchen ernst. Angesichts dieses Charmes vergißt man schnell, daß Mandela kein sonderlich guter Redner ist, heiser und etwas abgehackt spricht. Seine öffentliche Auftritte haben oft etwas Aristokratisches, verstärkt durch die sehr aufrechte Haltung. Nicht umsonst, sagen schwarze Südafrikaner, denn Mandela kommt doch aus einer Königsfamilie. – Im nächsten Moment ist der unbeugsame Kämpfer einer einstmals stramm marxistischen Bewegung ein einfacher Genosse wie du und ich.

Am wohlsten aber fühlt er sich sichtlich, wenn es nicht allzu staatstragend zugeht. Sein Markenzeichen, die in Westafrika maßgeschneiderten bunten Ethno-Hemden, trägt Mandela außer zu Staatsempfängen so gut wie immer. Damit hat er die Kleiderordnung des spießigen Burenstaats nachhaltig verändert. Kunterbunt ist das verstaubte koloniale Parlament in Kapstadt heute, und die alten Buren haben sich daran gewöhnen müssen, daß der Präsident auch noch gern tanzt. Dabei lieben sie den „Terroristen“ doch auch. Ein bißchen zumindest, und ganz heimlich. Schließlich verdankt ihm die weiße Minderheit, daß sie bisher kaum auf Privilegien verzichten mußte. Daß unter seinem Nachfolger alles anders wird, fürchten die meisten Weißen nicht zu Unrecht. Viele haben gehofft, daß Mandela wenigstens im ANC eine führende Rolle behalten wird. Doch auch damit soll Schluß sein.

Nach dem 2. Juni will Nelson Mandela etwas genießen, was ihm sein Leben lang verwehrt war: Familienleben. Zwei Ehen, auch die mit Winnie, sind nicht zuletzt an der Politik zerbrochen. „Wenn das Leben ein Kampf ist, wie es meines gewesen ist, bleibt wenig Raum für das Familienleben. Das habe ich immer am meisten bedauert, und es war der schwierigste Teil der Wahl, die ich getroffen habe“, sagt er in seiner Autobiographie „Der lange Weg zur Freiheit“. Voller Anteilnahme verfolgte die Nation, daß ihm doch noch ein wenig privates Glück gegönnt ist. Wie ein 17jähriger strahlt Mandela mit Graca Machel, die er im vergangenen Jahr, an seinem 80. Geburtstag, geheiratet hat. Jetzt hat er nur noch einen Wunsch. „Ich möchte in mein Dorf zurück , mit anderen Dorfbewohnern spazierengehen und meine Enkel genießen. Ich möchte mich ausruhen, am liebsten inkognito.“

Kordula Dörfler lebt und arbeitet seit 1995 als Korrespondentin der taz in Johannesburg. Sie schreibt auch für den evangelischen pressedienst epd und die Schweizer Wochenzeitung facts.