Mit der Leidenschaft des Bundestages

Wieder steht eine Europawahl vor der Tür, die vor allem als nationale Testwahl mißbraucht wird. Auch bei Bundestagswahlen spielte die Europapolitik bislang keine Rolle. Wie aber kann Europa stärker ins Blickfeld gerückt werden? Durch eine Stärkung des Bundestags, lautet die auf den ersten Blick paradox klingende Antwort. Ein Blick in eine Zukunft, in der Europafragen wie selbstverständlich zur deutschen Innenpolitik gehören  ■ Von Christian Rath

Der Bundestag im Jahr 2010: Die grün-gelbe Regierungskoalition will, daß auf europäischer Ebene die Solarenergie stärker subventioniert wird. Dagegen möchten die Oppositionsparteien SPD und CDU/CSU das Geld lieber für eine Umrüstung der letzten Kernkraftwerke ausgeben. Die endgültige Entscheidung fällt zwar in Brüssel, genauer: im Ministerrat der Europäischen Union, doch wie bei fast allen wichtigen EU-Vorhaben wird die deutsche Verhandlungsposition erst nach einer kontroversen Diskussion im Deutschen Bundestag festgelegt. Dort wird es spannend. Denn das ständige Anwachsen der Solarsubventionen ist auch in der Regierungskoalition umstritten, manche FDP-Abgeordnete haben gedroht, diesmal gegen die grün-gelbe Regierungslinie zu stimmen. Doch die Sensation bleibt aus. Die FDP-Abweichler kuschen nach einem Machtwort von Kanzler Oskar Lafontaine (Die Grünen). Für die Solar-Lobby ist das Rennen damit aber noch nicht gewonnen. Schließlich fällt die eigentliche Entscheidung erst auf EU-Ebene. Nach diesem furiosen Auftakt verfolgt die deutsche Presse die Verhandlungen in Brüssel und Straßburg natürlich mit ausführlichen Berichten.

So könnte der politische Einstieg in wichtige EU-Vorhaben künftig aussehen. Eine frühzeitige Politisierung auf nationaler Ebene brächte vor allem mehr Transparenz in die EU-Rechtsetzung. Weil der Konflikt in einem bekannten nationalen Gremium (dem Bundestag) mit dem bekannten Personal (deutsche MinisterInnen und Abgeordnete) stattfindet, steigen die Medien frühzeitig und intensiv in die Berichterstattung ein. So wird auch die Öffentlichkeit rechtzeitig auf anstehende Veränderungen aufmerksam. Ist ein Thema auf diesem Wege in die öffentliche Debatte eingeführt, wird auch die Berichterstattung über die nachfolgende Arbeit von Europäischem Parlament (EP) und Ministerrat intensiver als heute ablaufen. Eine Stärkung der nationalen Parlamente ist daher keine Konkurrenz zum EP, sondern nützt ihm sogar.

Das Europäische Parlament mit seinen unbekannten Parteien und Personen ist dagegen wenig geeignet, eine eigenständige Öffentlichkeit für Europa herzustellen. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Wer weiß schon, daß die CDU in Europa EVP (Europäische Volkspartei) heißt? Wer kennt schon Pauline Green, die sozialdemokratische Fraktionschefin? Auch eine Aufwertung des Europäischen Parlaments wird daran nichts ändern. Zudem wird der Ministerrat auch in Zukunft das Hauptentscheidungsgremium der EU bleiben. Denn in Europa geht es nicht nur um politische und wirtschaftliche Interessen, sondern vor allem um die Koordination unterschiedlicher Rechts- und Gesellschaftsordnungen. Wird diese nicht vom Rat geleistet, würde ein voll verantwortliches Europäisches Parlament in nationale Fraktionen zerfallen.

So wie auch die europäischen Lobby-Verbände nicht wirklich funktionieren. Jeder halbwegs wichtige nationale Verband hat heute sein eigenes Büro in Brüssel. Wo aber bleibt der Bundestag in der Europapolitik bislang? Bis zum Maastrichter Vertrag hat er sich vierzig Jahre lang weitgehend desinteressiert gezeigt. Man beschränkte sich darauf, eine Aufwertung des Europäischen Parlaments zu fordern und die Vertragsänderungen abzusegnen. Aus der Tagespolitik, der Schaffung von EU-Richtlinien und Verordnungen, hielt sich der Bundestag heraus. Gleichzeitig schalteten sich die deutschen Länder über den Bundesrat immer aktiver in die Europapolitik ein und ließen ihre Rechte 1992 im Grundgesetz verankern.

Da mußte dann auch der Bundestag Flagge zeigen. In Artikel 23 des Grundgesetzes heißt es jetzt, daß der Bundestag europapolitische „Stellungnahmen“ abgeben kann, die die Bundesregierung „berücksichtigt“. Das aber ist juristisches Larifari. Unverbindliche Stellungnahmen durfte das Parlament schon immer abgeben. Zwar informiert sich der Bundestag jetzt regelmäßig über die Europapolitik, hat einen EU-Ausschuß eingerichtet, und auch die Fachausschüsse diskutieren über EU-Vorhaben. Was aber fehlt, ist eine Politisierung wichtiger Projekte und die Schaffung öffentlicher Aufmerksamkeit und Transparenz.

Das oben beschriebene Szenario wäre heute undenkbar. Der Grund liegt auf der Hand. Der Bundestag ist normalerweise ein Entscheidungsorgan, und wenn von ihm – wie in der Europapolitik – nur unverbindliche Stellungnahmen erwartet werden, ist kaum mehr als leidenschaftslose Pflichterfüllung zu erwarten.

Nur wenn das Parlament die deutsche Europapolitik bestimmen kann, sind die Oppositionsparteien motiviert, die Regierung herauszufordern, Unstimmigkeiten zwischen den Ministerien und den Regierungsparteien zu thematisieren. Und nur wenn eine abweichende Mehrheit möglich und auch rechtlich relevant ist, werden die Medien die parlamentarische Europapolitik aktiv begleiten. Ohne die Fähigkeit zu Konflikt und Entscheidung kann ein Parlament kaum Transparenz vermitteln.

Was aber hält die parlamentarische Opposition vom Versuch ab, die Regierung herauszufordern, zu versuchen die deutsche Verhandlungsposition im Bundestag per Gesetz, also verbindlich, festzulegen? Es sind vor allem ungeschriebene verfassungsrechtliche Traditionen. So gilt die Außenpolitik heute noch immer als Regierungssache. Dabei ist Europapolitik aber längst schon keine normale Außenpolitik mehr, sondern eine neue, transnationale Form von Innenpolitik.

Es geht also um eine Änderung der politischen Kultur und der parlamentarischen Praxis. Das Grundgesetz steht dem nicht entgegen. Die deutsche Europapolitik würde durch eine solche Parlamentarisierung auch nicht unbeweglich. In aller Regel werden die Mehrheitsfraktionen ihrer Regierung den Rücken freihalten. Der real existierende Reiz des Parlamentarismus besteht nicht darin, daß Parlament und Regierung gegeneinander arbeiten, sondern daß es im Parlament (in seltenen Sternstunden) eine abweichende Mehrheit geben könnte oder daß der Druck der Öffentlichkeit die Mehrheit zur Änderung ihrer Positionen zwingt. Dieser Mechanismus sollte auch in der Europapolitik genutzt werden. Bislang gibt es eine vergleichbare Praxis nur in Dänemark und in Österreich. Die neue EU-Transparenz brächte noch einen weiteren Vorteil mit sich: Die Regierungen könnten sich nicht mehr hinter den „Bürokraten in Brüssel“ verstecken und müßten selbst Verantwortung übernehmen. Immerhin werden EU-Richtlinien und Verordnungen von den fünfzehn EU-Regierungen und ihrem Beamtenapparat ausgehandelt. Wenn dieser Prozeß sichtbarer würde, müßten die Regierungen aktiv für die gefundenen Kompromisse einstehen und diese gegenüber dem heimischen Publikum vertreten, statt scheinheilig auf „Brüssel“ zu schimpfen. Die oft zu Unrecht gescholtene Kommission macht den Regierungen schließlich nur Vorschläge. Und auch das EP kann nur Änderungen vorschlagen und – bestenfalls – ein Veto einlegen.

Natürlich besteht dabei die Gefahr, daß Politisierung und Transparenz auch populistische Strömungen begünstigen. Dies aber zwingt die Regierungen erst recht zu antipopulistischer Politik, zur Werbung für die (berechtigten) Interessen der Nachbarn. Denn Erfolg werden in Europa auf Dauer nur kompromißfähige Regierungen haben. Wer nicht kompromißbereit ist, isoliert sich und verliert an Einfluß. Bei Mehrheitsentscheidungen wird man am Ende einfach überstimmt.

Auch wenn es nicht immer den Anschein hat: Letztlich begünstigt das EU-Prozedere die konstruktiven Staaten. Nicht zuletzt deshalb wurde in England Margret Thatcher von ihrer Partei gestürzt und John Major von der Bevölkerung abgewählt. Nur wenn der Sinn europäischer Kompromisse künftig deutlicher wird, kann die auf Interessenvermittlung ausgerichtete EU-Rechtssetzung die ihr zukommende Anerkennung erhalten.

Auch hierbei kommt nationalen Parlamenten wie dem Bundestag künftig eine wichtige Rolle zu. In diesem Forum kann die Regierung herausgefordert und kann gedroht werden, sie auf einen anderen Kurs festzulegen. Hier müssen die Regierungen ihre gemeinsame Kompromißsuche erläutern und versuchen, die eigenen Abgeordneten und nicht zuletzt die Öffentlichkeit zu überzeugen.

Diese aber wird sich nur für diese Vorgänge interessieren, wenn das Parlament auch etwas zu sagen hat und nicht nur „Stellungnahmen“ abgeben darf. Solange es keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, keine gemeinsamen Medien, keine gemeinsame Sprache gibt, müssen die bestehende Diskursforen auch in der Europapolitik genutzt werden. Nur die nationalen Parlamente vermitteln derzeit den Zugang zu einer halbwegs funktionierenden Öffentlichkeit.

Eine Parlamentarisierung auf nationaler Ebene würde dabei auch die politische Gestaltbarkeit der EU-Politik betonen und den Blick auf die Arbeit von Rat und Europäischem Parlament schärfen. Die EU würde dadurch an Transparenz und Legitimation gewinnen. Hoffentlich nicht erst im Jahr 2010.

Christian Rath, 34, ist rechtspolitischer Korrespondent der taz und der „Badischen Zeitung“. Er beendet gerade seine Dissertation über die „Entscheidungspotentiale des Deutschen Bundestages in EU-Angelegenheiten“