Eisgekühlte Hysterie

■ Mit „Solarium“ gibt Nasser Martin-Gousset, früher Tänzer bei Sasha Waltz, ein Gastspiel als Choreograph in den Sophiensaelen

Es gibt Tage, da muß man sich entscheiden: Kühlschrank oder Radio. Läuft beides zusammen in der Küche, dann verzerrt häßliches Brummen den Klang. Mit solch gestörter Musik beginnt „Solarium“ von Nasser Martin-Gousset, und tatsächlich tanzt er dazu beiläufig wie beim Abwaschen ein paar Schritte vor und zurück.

Gestört, falsch ausgesteuert, überdreht: Nicht nur die Technik macht sich in „Solarium“ in ihren Fehlern bemerkbar. Auch die Minidramen um Jack (Emanuel Lescoulie) mit Cowboyhut und Gloria (Sophie Lenoir), die unter ihrem Trenchcoat bloß Pailletten auf den Spitzen ihrer Brust trägt, scheinen wie eine Collage aus nicht zusammengehörigen Rollenschnipseln, die nur eines gemeinsam haben: auf den Kollaps, den Zusammenbruch, den Giftmord, die Katastrophe hinzusteuern.

In „Solarium“ kehrt der 1965 in Lyon geborene Nasser Martin-Gousset mit Musik, Filmzitaten und Parodien auf Rockallüren in die Zeit der Mondlandung und der ersten Popstars zurück. Während Gloria auf dem Kühlschrank Stripgymnastik treibt, übt Nasser mit Motorradhelm als Astronaut verkleidet Moonwalking; aber weil auf der Bühne keine Schwerelosigkeit herrscht, knallt er hart gegen die Wand. Träume erleiden hier Bruchlandung, ob sie nun von Sex, Rausch oder Ruhm handeln.

Der letzte Teil des Stücks erinnert an Sasha Waltz' Tanzkrimi „Tears Breakfast“, denn schon dort trat Nasser als handtäschchenkramende, hypernervöse „she“ auf. Wieder stöckelt er auf seinen langen Beinen und unter einer Perücke, die vom Gesicht nichts übrigläßt, in eine Szene, in der es um Deals, Diebstahl und Mord geht, das Zwielichtige der Travestie als einzige Möglichkeit auskostend, der eigenen Widersprüchlichkeit gerecht zu werden.

Ein wenig enttäuschend ist die Wiederbegegnung mit Martin-Gousset, den man in Berlin als Tänzer von Sasha Waltz' Travelouge-Trilogie (1993 bis 1995) in bester Erinnerung hat, schon. Dort folgte man seinen Balanceakten am Abgrund der Verzweiflung und den rettenden Sprüngen in die selbstironische Distanz mit größerer Anteilnahme. Die Wechsel zwischen den Genres Performance, Theater und Parodie zerfleddern „Solarium“, seine vierte Arbeit als Regisseur und Choreograph. Man wird nicht richtig schlau aus seiner Nostalgie nach einer Zeit, deren Utopien er wie Seifenblasen zerplatzen läßt: Geht es um Rache an getrogenen Hoffnungen oder bloß um die Liebe zu Sonnenbrillen und Perücken? So schäumt das Stück wie das Bier in den geöffneten Dosen, die Nasser in einem Wutanfall vom Kühlschrank runterschleudert, aber es löscht nicht den Durst. Katrin Bettina Müller

„Solarium“. Heute um 21 Uhr, Sophiensaele