Bücher für Randgruppen
: Das Wispern des Nordlichts

■ Kulturgeschichte des Pfiffs oder: Pfeifen im Ohr und im Walde

Bescheiden nennt es sich „unvollständig“, das Handbuch zur Phänomenologie des Pfeifens. Dafür ist das lexikalisch sortierte Nachschlagewerk äußerst vielfältig. Ausgehend von einer Musikveranstaltung der Berliner Freunde Guter Musik e. V. strömte den Organisatoren bei ihrer Recherche eine überbordende Zahl an interessanten Informationen über das Pfeifen als Mittel der Kommunikation, im Rahmen der Sozialpsychologie, Instrumentenkunde und der Signaltechnik zu. Verschiedene Kenner der Materie verfaßten dazu umfangreiche Beiträge, die von der Pfeifsprache der Einwohner von Gomera – ein Text von António Almeida aus dem Großherzogtum Luxemburg – bis zur Bedeutung des Delphinpfeifens – ein Beitrag der Biologen und Nachtigallgesangsforscher Silke Kipper und Dietmar Todt aus Berlin – reichen.

Auch Persönlichkeiten, die sich um das Pfeifen als solches verdient gemacht haben, werden mit einem Eintrag gewürdigt. So der ewig, wenn auch mittlerweile nur noch playbackpfeifende UFA-Star Ilse Werner, der amerikanische Maler James Whistler (lediglich aufgrund seines Nachnamens vertreten), der Humorist Loriot (französisch: Pirol) und Kurt Schwitters, der in seinen Lautgedichten auch den einen oder anderen Pfiff eingebaut hat. Im Grunde, so die Herausgeber Volker Straebel und Matthias Osterwold, ist das Pfeifen eine Selbstverständlichkeit: „Alles pfeift, und alle pfeifen, und fast niemand denkt darüber nach.“ Sie widmen so das Nachschlagewerk jenen wenigen Unglücklichen, die immer schon pfeifen wollten, aber keinen Ton herausbekamen.

Den Herausgebern geht es nicht nur darum, das Pfeifen in seinem kulturgeschichtlichen und künstlerischen Kontext zu betrachten, sondern durchaus auch dessen unangenehme, ja peinigende Aspekte aufzuzeigen. So am Beispiel des Tinnitus, eines 400.000 Bundesbürger quälenden, unsäglichen Ohrpfeifens. Im Jahr 1683 erstmals als eigenständiges Leiden aufgezeigt, ist es heute im Zeitalter des Spezialistentums in vorerst zwei Kategorien aufgeteilt worden: den objektiven und den subjektiven Tinnitus. Der objektive läßt sich sogar von der Außenwelt wahrnehmen, wenngleich nur als leises Knacken oder rhythmisch strukturiertes zartes Klikken. Der subjektive, den nur die Betroffenen wahrnehmen, kann aber nun auch von Nichtbetroffenen gehört werden: Mittels einer von einem Synthesizer erzeugten Geräuschfolge nach den Geräuschbeschreibungen der Geplagten unter der Servicenummer 01 90/25 02 05 für DM 1,20/Min.

Oder einfach selber machen: Im Buch befindet sich der Bastelbogen für die sogenannte Levavasseur-Pfeife nach Gunter Demnig. Sie wurde aus einer gewöhnlichen Polizeipfeife entwickelt, deren Klang durch einen Helmholtzresonator verstärkt wird. Für die Eskimos – so nachzulesen im Kapitel Nordlicht – machen sich die toten Seelen durch Pfeifen und Tinnitus bemerkbar. Dem Nordlicht selbst wurde immer wieder ein eigentümlich knisterndes Geräusch oder ein flötender, pfeifender Laut nachgesagt. Der Leipziger Ornithologe Thienemann, der 1820 Island bereiste: „Ein vom Nordlichte herrührendes Geräusch haben wir nie gehört, und auch die ältesten Isländer verneinten durchaus, daß es ein solches gebe, und man kann ihnen als treuen Beobachtern ihrer Umgebungen den Glauben nicht versagen.“ Andererseits, so Thienemann weiter, habe sich Prof. Hansteen jüngst erinnert, vor 60 Jahren als 12jähriger Knabe bei hellem Nordlichte auf einer freien Wiese in Hedemarken einen raschen wispernden Laut gehört zu haben. Der Nordlichtpfiff? Wolfgang Müller

„Pfeifen im Walde“. maly Verlag, Köln. 136 S., 30 DM