Das Amselfeld als Wille und Vorstellung

Wie Feindbilder entstehen: In Phasen nationaler Unsicherheit greifen Politiker zu Bildern einer heroischen oder traumatischen nationalen Vergangenheit. Die historische Wirklichkeit spielt dabei keine Rolle. Ein Plädoyer, von der Psychoanalyse zu lernen  ■ von Vamik D. Volkan

Wenn ein Krieg ausbricht, haben Diplomaten, Politstrategen und Militärs in der Regel andere Sorgen, als sich damit zu beschäftigen, welche psychologischen Prozesse die Konfliktparteien antreiben. Das ist nicht überraschend, da die meisten psychologischen Vorgänge unbewußt ablaufen, und bei der Vorbereitung eines Krieges eher strategisches Denken eine Rolle spielen. Das Geschäft des Kriegführens erfordert intensives logisches Denken und Rationalisierung. Bedürfnisse und Möglichkeiten müssen bewertet, Truppen organisiert, Verbündete herangezogen und Gelder bereitgestellt werden. Wenn Psychologie in Zeiten des Krieges überhaupt von Bedeutung ist, so nur, wenn sie in den Dienst der Propaganda gestellt, einen Gegensatz zwischen „uns“ und „denen“ zu konstruieren hilft.

Die psychologischen Prozesse, auf die hier der Fokus gerichtet werden soll, spielen sich jedoch auf einer anderen Ebene ab: Es sind die meist unbewußten Vorgänge, durch die die Identität einer unter starkem Streß stehenden Gruppe gestärkt wird. Insbesondere nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Jugoslawien war die „neue“ serbische Identität einer erheblichen Belastung unterworfen und bedurfte der Stabilisierung.

In Phasen der Unsicherheit wird Identität sehr wichtig

Die Psychologie der Gruppenidentität ist die Wurzel der schrecklichen Ereignisse, deren Zeuge wir heute in Serbien und Kosovo werden. Wenn eine große Gruppierung eine Periode der Unsicherheit durchläuft, in der sie sich fragt „wer sind wir jetzt?“, dann wird, oft unbewußt, viel in Gang gesetzt, um auf diese Frage eine Antwort zu finden. Als das ehemalige Jugoslawien zusammenbrach, sahen sich Serben, Kroaten, Bosnier, Albaner und andere dort lebende Menschen vor die dringende Notwendigkeit gestellt, ihre jeweilige Gruppenidentität neu zu definieren und sich von den „anderen“ abzugrenzen. Unter solchen Verhältnissen erhält die Macht der politischen Führung, ethnische oder nationale Gefühle zu zähmen oder anzustacheln, entscheidende Bedeutung.

In Serbien schürte die dortige Führung nationalistische Gefühle. Nahrung erhielt der serbische Nationalismus insbesondere durch die Wiedererweckung eines „erwählten Traumas“. Der Begriff „erwähltes Trauma“ bezieht sich auf das gemeinsame geistige Bild von einem vergangenen Ereignis, in dessen Verlauf eine Gruppe, im Konflikt mit einer benachbarten Gruppe die Erfahrung von Hilflosigkeit und Demütigung machen mußte. Wenn die zu Opfern gemachte Gruppe nicht in der Lage ist, die Demütigung und Hilflosigkeit zu verarbeiten, gibt sie das Bild von diesem Ereignis an die nachfolgenden Generationen weiter, wo es weiter nagt und Haß auf die „andere“ Gruppe erzeugt. Den Angehörigen nachfolgender Generationen wird die Aufgabe aufgebürdet, die ungeklärten Angelegenheiten ihrer Vorfahren zu verarbeiten.

Das „erwählte Trauma“ der Serben ist das gemeinsame geistige Bild der Amselschlacht, die am 28. Juni 1389 zwischen Serben und Ottomanen stattfand. Wenn ein Ereignis zu einem erwählten Trauma wird, dann ist die historische Realität nicht länger von zentraler Bedeutung. Wichtig ist, daß das Bild von diesem Ereignis sich zu einer ethnischen Wegmarkierung entwickelt, die die Mitglieder der Gruppe unter dem Schirm der Gruppenidentität vereinigt.

Erst nach 70 Jahren wurde das Amselfeld zum Trauma

Es gibt mindestens 25 verschiedene Versionen von der Schlacht auf dem Amselfeld. Klar ist so viel, daß die Anführer beider Seiten in der Schlacht den Tod fanden: der ottomanisch-türkische Feldherr Sultan Murat I. und der serbische Feldherr Prinz Lazar. In den Jahren nach der Schlacht gab es Anzeichen von Vermischung und Kooperation zwischen Serben und Ottomanen. Eine von Lazars Töchtern heiratete den neuen türkischen Sultan, und Lazars Sohn brachte seine Streitkräfte dazu, Seite an Seite mit den ottomanischen Truppen gegen Tamerlan zu kämpfen. Erst als die Ottomanen gut siebzig Jahre später nach Serbien zurückkehrten, begann das Bild von der Schlacht auf dem Amselfeld die Gestalt eines erwählten Traumas anzunehmen. Im Jahre 1690, als sich die ottomanische Herrschaft über Serbien festigte, entfernten Mönche des Klosters Ravanica – wo Lazar heiliggesprochen und begraben worden war – seine Leiche und brachten sie in eine Gegend im Nordwesten von Belgrad. Lazar wurde zu einem „Exilanten“, und das erwählte Trauma der Serben nahm feste Formen an.

Das Bild des Lazar' wurde in enge Verbindung mit dem Bild des gekreuzigten Jesus gebracht. Im Laufe der Jahrhunderte wurden mittels einer starken mündlichen und religiösen Tradition mythologisierte Erzählungen über die Schlacht von Generation zu Generation weitergegeben, durch die das Gefühl einer gemeinsamen traumatischen Identität immer wieder verstärkt wurde. Als die Serben im Jahre 1912 den Kosovo annektierten, taten sie dies im Namen Lazars. Als die Albaner sich auf „heiligem serbischen Boden“ niederließen, nahm dieser Umstand den Charakter einer schwärenden Wunde an.

Als Slobodan Miloevic das erwählte Trauma benutzte, um den serbischen Nationalismus zu entfachen, war dies kein heimlicher Vorgang: Miloevic und sein Gefolge beschloß, Lazars Körper aus dem Exil zu holen und ihn an seinen ursprünglichen Begräbnisort zurückzubringen. Sie waren überzeugt, daß dies die „neue“ serbische Identität stärken und damit auch ihren Zugriff auf die politische Macht sichern helfen würde. 1989 wurden die 600 Jahre alten Überreste von Prinz Lazar in einen Sarg gelegt und auf eine ein Jahr währende Reise durch ganz Serbien geschickt. Entlang des Weges machte der Sarg in Dörfern und Städten Station. Priester vollzogen religiöse Zeremonien, Politiker hielten Reden, Frauen legten Trauerkleidung an und viele Menschen weinten.

Prinz Lazar ging nach 600 Jahren wieder auf die Reise

Ein „Zeit-Kollaps“, wie ich es nennen möchte, hatte sich ereignet – ein Begriff, der sich auf eine Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart bezieht: Reaktivierte Gefühle und Wahrnehmungen aus der Vergangenheit werden mit Gefühlen und Wahrnehmungen, die gegenwärtige Ereignisse betreffen, vermengt. Durch den Zeit-Kollaps wird das gemeinsam empfundene Gefühl einer Gefahr, die vom gegenwärtigen Feind ausgeht, verstärkt und gleichzeitig das Gefühl erzeugt, zur Rache berechtigt zu sein.

Als die „Reise“ des toten Lazar zu Ende war und der 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld am Ort der Kämpfe feierlich begangen wurde, sangen junge Frauen nationalistische Lieder und Männer trugen T-Shirts, auf denen die Worte Lazars zum Kampf gegen die Türken einluden. Miloevic schwebte per Helikopter am Ort der Feierlichkeiten ein. Die Symbolik war unmißverständlich: Hier kam er, der verlängerte Arm von Prinz Lazar, um vom Himmel herabzusteigen und ein Königreich auf Erden für die Serben zu erbauen.

Viel ist über Miloevic' persönlichen Hintergrund gesagt worden. Sein Lieblingsonkel beging Selbstmord, als er sieben Jahre alt war. Als er vierundzwanzig war, brachte sich sein Vater um, und als er dreißig war, tat seine Mutter das gleiche. Ohne nähere Einzelheiten müssen alle Schlußfolgerungen aus diesen Tatsachen bloße Spekulation bleiben, aber man darf sich die Frage stellen, ob nicht Miloevic' Erfahrung der Zurückweisung durch die Selbstmorde dreier Menschen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten, einen Einfluß hatte auf seine Beschäftigung mit der toten Vaterfigur, Prinz Lazar.

Ein wichtigeres Thema ist die Frage, wie man auf eine psychologisch unterrichtete Art und Weise über die Zukunft der Provinz Kosovo nachzudenken beginnen soll. Wenn wir einmal davon ausgehen, daß die Nato gewinnt: würde sie dann versuchen, die Kosovo-Albaner auf eine Art und Weise in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, die das Bevölkerungsgemisch wiederherstellt, das im Kosovo bis unmittelbar vor der erzwungenen Migration existierte? Oder würde man eine Form der Teilung erwägen, die eine neue Grenze zwischen Kosovo-Albanern und Kosovo-Serben beinhaltet? Wenn eine solche Teilung erwogen wird: würde man den Serben die totale Kontrolle über ihr „heiliges“ Amselfeld mitsamt Denkmälern überlassen? Man kann nur hoffen, daß solche Fragen gestellt werden und nicht nur unter den Gesichtspunkten der Realpolitik in Betracht gezogen werden, sondern auch mit einem Verständnis gruppenpsychologischer Prozesse.

Die Erfahrung, die die Nato im Kosovo gemacht hat, mag einmal mehr die psychologische Macht von Gruppenidentitäten erhellen. Und hier könnten Psychoanalytiker, die ethnische Gruppierungen in einem interdisziplinären Umfeld erforschen, einen wichtigen Beitrag leisten. In der traditionellen Wahrnehmung sind Psychoanalyse und Diplomatie Welten voneinander entfernt und mögen selbst jetzt noch als seltsame Bettgenossen erscheinen. Aber ethnische Konflikte und die Notwendigkeit, die unsichtbare Macht der ethnischen Zugehörigkeit zu verstehen, könnten diese Genossen zumindest in denselben Raum bringen.

Der Psychoanalytiker Vamik D. Volkan ist Leiter und Gründer des „Center for the Study of Mind and Human Interaction“ an der Univesity of Virginia, an dem Psychologen, Diplomaten und Historiker gemeinsam die Gruppenpsychologie nationaler und ethnischer Konflikte untersuchen. Von ihm ist zuletzt das Buch „Das Versagen der Diplomatie: Zur psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte“ beim Psychosozial-Verlag erschienen.

Aus dem Amerikanischen: Axel Henrici.