Tschernomyrdin verhandelt auf verlorenem Posten

■ Politische Kreise in Rußland sind sich in der Ablehnung der Den Haager Klage gegen Slobodan Milosevic einig. Besonders ärgert Moskau der Zeitpunkt der Anklageerhebung

„Wir haben es gewußt, gewarnt und darum gebeten: ,Macht das nicht!‘, weil es den Prozeß erschwert“, meinte Rußlands Balkanemissär Wiktor Tschernomyrdin zur Haager Anklageerhebung gestern kurz vor seinem Abflug nach Belgrad. Obwohl Rußland weiter mit dem Serben im Gespräch bleiben und eine diplomatische Lösung erwirken will, gibt sich Moskau keinen Illusionen mehr hin. Alle politischen Kreise in der russischen Hauptstadt, unabhängig von ihrer politischen Couleur, lehnten die Entscheidung, Miloevic als Kriegsverbrecher anzuklagen, einmütig ab.

Das Außenministerium fuhr gestern wieder größere Geschütze auf: „Es ist wohl kaum ein Zufall, daß die Anklage gerade jetzt erhoben wird, da die Gesprächsbemühungen um eine politische Lösung die wichtigste Phase erreicht haben.“ Außenminister Igor Iwanow glaubte schon vor einer Woche, auf eine aus Moskauer Sicht recht seltsame Koinzidenz hinweisen zu müssen: Demnach habe die Nato jedesmal ihre Angriffe intensiviert, wenn sich ein Fortschritt bei den Friedensverhandlungen abzeichnete. Das Ministerium nannte den Haager Vorstoß „politisch motiviert“ und sparte nicht mit Kritik an Chefanklägerin Louise Arbour, was nicht unbedingt diplomatischen Gepflogenheiten entspricht: „Louise Arbour hat eine überraschende Gleichgültigkeit gegenüber den unbestreitbaren Fakten einer Nato-Aggression gegen Jugoslawien demonstriert und den Resultaten des Bombardements apathisch zugeschaut.“

Besonders verärgert zeigte sich die russische Seite über den Zeitpunkt der Anklage. Die Meldung platzte herein, als Tschernomyrdin, der Finne Maarti Ahtisaari und US-Unterhändler Strobe Talbott bereits den zweiten Tag vor den Toren Moskaus über dem Kosovo-Problem brüteten. Talbott habe gute Miene zum bösen Spiel gemacht, wird ihm vorgeworfen. Oder sollte er tatsächlich nichts von dem Haftbefehl gewußt haben und welche Konsequenzen sich daraus für den Friedensprozeß ergeben würden? fragt die Nesawissimaja Gaseta. „Moskau hat jetzt guten Grund, die Rolle als Vermittler aufzugeben.“ Die Zeitung ist das Sprachrohr des Oligarchen Boris Beresowski, der großen Einfluß auf den Präsidenten ausübt. Was Boris Jelzin öffentlich dazu verlautbaren lasse, seien „zarteste Blüten“ im Vergleich zu seinen Äußerungen hinter den Kulissen, behauptet das Blatt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Schon befürchten Beobachter, Jelzin könnte den Kosovo-Konflikt nutzen, um seine 2000 auslaufende Amtszeit durch eine halbwegs legitimierbare Notkonstruktion zu verlängern. Beziehungen zum Westen, die sich auf dem Niveau des Kalten Krieges bewegen, würden dergleichen Maßnahmen erleichtern.

Bereits am Donnerstag hatte Tschernomyrdin in einem Beitrag der Washington Post Konsequenzen angedroht. Sollte der Westen die Bombardements nicht einstellen, werde er Jelzin empfehlen, aus den Gesprächen auszusteigen und gegen die Jugoslawien-Resolution der UNO ein Veto einzulegen. Tschernomyrdins Beitrag war eine Replik auf einen Artikel Bill Clintons in der New York Times, in dem der US-Präsident behauptete: „Rußland hilft Belgrad einen Weg auszuarbeiten, um unseren Bedingungen zu genügen.“ Sich derart plump zum Handlanger Washingtons stempeln zu lassen, konnte Tschernomyrdin schon aus innenpolitischen Erwägungen nicht auf sich sitzen lassen.

Maria Silvanskaja von der Moskauer Carnegie-Stiftung, einem liberalen Think Tank, kritisert ebenfalls den ungeschickt gewählten Zeitpunkt der Anklageerhebung. Sie gibt zu bedenken: „Jelzin und Tschernomyrdin haben bisher alles getan, um einen Bruch mit dem Westen zu verhindern.“ Der Spielraum werde indes spürbar enger. Die russische Öffentlichkeit lasse sich nicht mehr von der Alleinschuld Miloevic' überzeugen. Klaus-Helge Donath, Moskau