Heimatvertriebene

Von Einheimischen und von dem Fremden  ■ Von Gabriele Goettle

Der kleine Fotograf ist tot, der Mann, mit der viel zu dünnen „Kapitaldecke“, wie er seine mißliche Lage stets zu bezeichnen pflegte. Sofort, als ich es erfuhr, fielen mir die merkwürdigen Begleitumstände unserer Bekanntschaft ein. Ich traf ihn in der Suppenküche der Heilig-Kreuz-Kirche, genauer gesagt, ich traf ihn nicht im eigentlichen Sinne, ich suchte ihn aus. Elisabeths Vorschlag beherzigend, ich solle doch auch einmal den Versuch wagen, mit dem am ärmsten aussehenden Armen Kontakt aufzunehmen, hatte ich mich im vollen Kirchenraum umgeblickt. Übrig blieben von all den in Frage kommenden Bedürftigen, bei gerechter Abwägung, nur zwei ältere, ganz besonders abstoßend wirkende Männer. Sie saßen stumm nebeneinander an einem Tisch, an den sich, trotz Platznot, sonst niemand gesetzt hatte. Dem einen fehlte die Nase, statt dessen hatte man ihm auf das offene Atemloch einen feuerroten Fleischlappen genäht, mit aller chirurgischen Lieblosigkeit, die denkbar ist. Der andere war ein dünner kleiner Mann, mit flaumartigem, graubraunem Haar und frisch verkrusteten Wunden, oder Geschwüren, im Gesicht und auf den Handrücken. Er trug Krawatte und Jackett, der viel zu weite weiße Hemdkragen ließ ein hühnerartig dünnes Hälslein frei. Ich frage, ob ein Platz frei sei. Der ohne Nase warf mir einen vernichtenden Blick zu – oder jedenfalls wirkt ein Blick aus einem solchen Geischt vernichtend –, der mit dem dünnen Hals aber sagte: „Bitte schön!“ und zeigte sich hocherfreut über etwas Gesellschaft. Er erzählte, er habe das Bäckerhandwerk erlernt, sei dann wegen einer Mehlstauballergie Opel-Arbeiter geworden, habe im Rahmen von Massenentlassungen seine Arbeit verloren. Seither in Berlin und arbeitslos, versuche er sich mit der Fotografie über Wasser zu halten, was mit Sozialhilfe und einer Adresse im städtischen Asyl nicht gerade einfach zu bewerkstelligen sei. Seine Stimme kam eng, gepreßt und ziemlich hoch aus dem schmallippigen Mund. Später, als wir uns besser kannten, ließ er einer besonderen Neigung die Zügel schießen: Dem detaillierten Ausmalen von Gewaltphantasien gegen Feinde oder feindliche Institutionen, bei deren grauenhafter Zerstörung er in Entzücken verfiel. Allerdings war es ihm fast unmöglich, laut zu werden oder gar zu schreien. Bereits beim bloßen Versuch, schwollen ihm die Adern derart an, daß das Schlimmste befürchtet werden mußte. Er sagte oft, quasi zusammenfassend: „Der einzige Sinn, den ich meinem Leben noch geben kann, ist, anderen davon zu erzählen. Damit sie wissen, selbst wenn sie ganz unten angekommen sind – das ist noch nicht das Ende. Es geht noch weiter – nach unten!“ Oft mußte er weinen bei der Schilderung neuerlicher Mißgeschicke und Schicksalsschläge. Besonders aber, wenn er über seine Mutter sprach, die Fabrikarbeiterin war in Schlesien, die sich an giftigen Dämpfen die Gesundheit ruiniert hatte, sich mit drei kleinen Kindern auf die Flucht begeben mußte, Kriegswitwe wurde und 1974 einsam starb – einen Tag vor der Fußballweltmeisterschaft; das war seine Eselsbrücke.

An einem strahlend schönen Maimorgen fuhren wir nach Mariendorf, in das Wohnheim, in dem er bis zu seinem Tode wohnte. Dem Umzug vom Asyl hierher, in ein kleines Einzelzimmer mit Kühlschrank, Waschecke und Zentralheizung, verdankte er einem Zuckerkoma, an dem er fast zugrunde gegangen wäre. Über das Zimmer war er über alle Maßen glücklich. Ich glaube, er hatte niemals eine richtige Wohnung oder auch nur ein kleines Reich für sich, er erzählte lediglich von Unterkünften für Lehrlinge oder Arbeiter. Aber so glücklich er auch über das Zimmer war, was blieb, war seine soziale Isolation, die in Mariendorf sogar noch etwas größer war als in Spandau, weil hier größtenteils Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien leben. Fast genau vor einem Jahr kamen wir schon mal hier an. Es war ähnlich schönes Wetter, die Flüchtlinge standen vor den Häusern in der Sonne oder gingen zwischen den Schrebergärten spazieren, der kleine Fotograf erschien mit zwei Einkaufstüten und war sehr aufgeregt. Er hatte uns zu seinem Geburtstag eingeladen. Elisabeth und mich. Und Armin, einen netten, alten, ehrenamtlichen Helfer aus der Südsternkirche, der dem kleinen Fotografen ab und zu half, ihn ausführte und aufrichtete. Der kleine Fotograf war entschlossen, seinen Geburtstag zu genießen. In einem kahlen, verräucherten Fernsehraum, deckten wir ein wackliges Tischchen. Er teilte große Stücke Schwarzwälder Kirschtorte aus, aß, trotz seines Diabetes, mehrere gewaltige Stücke und zwar in großer Eile. Er packte seine Geschenke aus, weinte ein wenig und erzählte dann von seinen Plänen. Er wollte bei „Quelle“ eine Zusatzrentenversicherung abschließen, um im Alter nicht darben zu müssen.

Eine der beiden Sozialarbeiterinnen, die damals beim Geburtstag mit Geschirr und Besteck behilflich war, trafen wir an der Pforte wieder. Sie blätterte in der Akte des kleinen Fotografen: „Also er ist am 11. 3. 99 gestorben, im Krankenhaus, quasi vor den Augen der Ärzte, an einer Lungenembolie. Zuvor hatten er eine Lungenentzündung, das war der Einlieferungsgrund. Er war ja so unachtsam mit seiner Gesundheit, zweimal am Tag mußte eine Schwester kommen und ihn spritzen, hier bei uns, er hatte manchmal Werte, na!“ Sie ist bereit, in den Keller zu gehen, um Elisabeths Praktica-Kamera aus dem Nachlaß des kleinen Fotografen zu holen. Wir hatten sie ihm überlassen, nachdem man im Asyl seine gestohlen hatte. Als wir den Empfang der Kamera auf einem Zettel bestätigten, sagte die Sozialarbeiterin seufzend: „Kein Mensch wird kommen, um diesen Nachlaß abzuholen. Es ist ja nun immerhin schon zwei Monate her.“

In der Kamera befand sich ein Film. Wir ließen ihn entwickeln. Als wäre es ein letzter Kommentar befand sich darauf nur ein einziges Bild. Es zeigt die abgelegte Kleidung auf dem Stuhl seines Zimmers.

Suppenküche Spandau

„Nicht arbeiten und nicht bei der Fahne – ja was ist denn das für ein Saustall hier?!“ ruft ein älterer Mann mit gepflegtem Haarschnitt in gespielter Entrüstung aus. Den gekonnt scharfen Tonfall hat er bei der DDR-Volksarmee erlernt. Und obgleich inzwischen zehn Jahre vergangen sind, in denen er sich höflich und bescheiden mit moderaten Tönen durchs zivile Leben eines Arbeitslosen schlug, beherrscht er ihn immer noch so perfekt, daß die einschüchternde Wirkung prompt eintritt. Der sensible Antiquar hat sich einen Moment lang geduckt, bis er zu kichern begann. Amüsiert hebt er die Arme und sagt: „Du wirst lachen, ich war bei der Fahne, bei der Kundgebung neulich war alles voll mit Fahnen. Ich habe sogar eine Weile ein Schild getragen – das hat mir einfach einer in die Hand gedrückt, zum Halten – da waren unser Bundeskanzler Schröder, unser Verteidigungsminister Scharping und unser Außenminister Fischer darauf abgebildet, und alle hatten ein Hitlerbärtchen.“ Der Volksarmist a. D. runzelt die Stirn, blickt streng auf den sitzenden Antiquar hinab und sagt: „Pfui! Das ist eine Beleidigung der Staatsorgane.“ „Ja, ich weiß“, bekennt sich der Antiquar in gespielter Zerknirschung schuldig, „es war mir auch richtiggehend peinlich, deshalb habe ich es ja so schnell wie möglich weitergereicht.“ „Na, dann ist gut!“ sagt der Gestrenge und schlendert langsam durch den Garten zur Suppenküchentür. „Wenn der wüßte“, sagt der Antiquar und reibt sich die Hände, „hier, der Milowan, hat zwei US-Fahnen verbrannt, und die hat er von seinem eigenen Geld bezahlt!“ Milowan der mit neuem Bürstenhaarschnitt und verlegenem Lächeln die ganze Zeit über schweigend neben dem Antiquar auf der Gartenbank saß, dementiert nun entschieden: „Nee, stimmt nicht. Es war nur eine Fahne, nur eine ganz kleine, billige.“ „Egal!“, ruft der Antiquar, jedenfalls bist du ein engagierter Kriegsgegner, das stimmt doch!?“ Milowan nickt ergeben. Der Antiquar kramt in der Brusttasche seines Jacketts und zieht ein kleines Bündel gefalteter Papiere hervor. „Da, für dich“, sagt er und gibt sie mir, „das sind verschiedene Flugblätter und Zeitungsausschnitte.“ Im Laufe der Zeit entwickelte er die erfreuliche Angewohnheit, die Woche über für mich mitzulesen und das, was er für interessant hält, für mich zu sammeln. Die Palette reicht von Ausschnitten aus Parteibroschüren, Spiegel, FAZ, dem Feuilleton der Berliner Zeitung, Focus, Woche bis hin zu Flugblättern, Obdachlosenzeitungen, merkwürdigen Handzetteln, Bordellanzeigen, Seltsamkeiten aus der Regenbogenpresse und Bücherkatalogen. Der „Antiquar Kunkel“, wie wir ihn zu seiner großen Freude seit längerer Zeit nennen, macht das dermaßen gewissenhaft, daß sogar die relevanten Stellen im Text angestrichen sind. Und ich muß sagen, oft decken sich seine und meine Interessen. Weil er gerne meine Freude und meine Überraschung über die Fundstücke sehen möchte, beginnt er meist bei der Aushändigung die Zuckerstückchen zu referieren. Diesmal ist es der von den Toten wiederauferstandene Dieter Kunzelmann, groß abgebildet in der BZ, den er mir besonders empfiehlt. „Und noch was hab' ich für dich, was ganz besonders wichtig ist. Milowan hat das von seinem Großvater erfahren: Also, die Frau von Miloevic, wie heißt sie gleich noch mal, Milowan?“ „Sie heißt Mira Markovic, sie ist Soziologieprofessorin ...“, sagt Milowan. „Was anderes meine ich“, fährt der Antiquar fort, „die Mutter von Mira Marcovic, war Partisanenführerin. Sie fiel den Deutschen in die Hände, wurde verhört ...“ „Gefoltert wurde sie!“ korrigiert Milowan. „Ja, gefoltert hat man sie“, erzählt der Antiquar weiter, „und unter der Folter hat sie eine Menge Leute verraten ... Oder wie soll man sagen, sie hat die Namen halt genannt. Jedenfalls wurde sie von den Kommunisten später wegen Verrat erschossen! Aber das ist noch nicht alles. Was jetzt kommt, habe ich zufällig neulich Nacht im Fernsehen gehört. Da hat ein alter, jüdischer Schriftsteller – dessen Name ich leider momentan vergessen habe – gesagt, daß Scharping „ein Kind des Führers“ ist. Und zwar deshalb, weil der Vater von Scharping, der hatte zuerst eine jüdische Ehefrau. Von der hat er sich, als die Nationalsozialisten stark wurden, scheiden lassen, dann ist er der Partei beigetreten und hat eine rein arische Frau geheiratet. Aus dieser Ehe entstammt unser Kriegsminister. Na, was sagst du dazu? Er will alles wiedergutmachen, deswegen sagt er, Miloevic ist wie Hitler. Überall sieht er 'Vergewaltigungslager' und 'KZs' im Kosovo und muß in die 'Fratze der deutschen Vergangenheit schauen', sagt er. Solche Fakten gehören doch veröffentlicht!“ Milowan hebt die Hand: „Ich will noch was sagen, über andere Eltern. Über die Eltern von Slobodan Miloevic. Die haben beide Selbstmord gemacht, aus politischen Gründen. Er und Mira Marcovic, haben sich schon als Kinder gekannt, sie lebten beide in Posaravac.“ „Ach!“, ruft der Antiquar verblüfft aus, „das ist doch alles Wahnsinn, die ganze Geschichte, und wie lange das nun schon geht!“ Milowan erhebt sich, lächelt, halb die Zahnlücke mit der Lippe verdeckend und sagt im Weggehen 1914, 1941, 1991 und 1999. „Was meinst du mit 1991?“ ruft der Antiquar ihm nach, Milowan antwortet, ohne sich umzudrehen: „Die Anerkennung Kroatiens! Das war der Anfang vom Ende Jugoslawiens.“

Der Antiquar nimmt seine Brille ab und putzt sie seufzend mit einem grünen Papier, das aus dem Spender der Herrentoilette stammt und sagt: „Der Milowan, der ist jeden Abend am Europa Center anzutreffen, dort steht er immer und hält Mahnwache gegen den Krieg. Da hat er auch gemeinsam mit der Mutter von dem Bundeswehrsoldaten gestanden, die so aktiv gegen den Krieg eingetreten ist. Ich glaube, inzwischen ist es dem Sohn von ihr ganz peinlich geworden, jedenfalls, die Mahnwache ist da immer, du kannst ja mal vorbeigehen.“

Ein mir fremder junger Mann, Anfang dreißig schätzungsweise, nähert sich. Er ist ein wenig untersetzt, hat dunkle Locken, trägt eine dunkel umrandete Brille und eine Art Buschhemd aus Seide, zur teuren schwarzen Hose. In der Hand hält er ein großes Kuvert, wie es üblich ist für den Schutz von Röntgenaufnahmen. Der Antiquar begrüßt ihn, sichtlich erfreut: „Hallo D., du hast dich aber lange nicht blicken lassen!“, und zu mir gewandt sagt er, mit jenem fuchsigen Gesichtsausdruck, den ich gut an ihm kenne, „das ist D., seine Geschichte, die muß du dir mal erzählen lassen.“ D. reicht uns beiden die Hand und setzt sich. „Hast dir wohl den Kopf röntgen lassen“? fragt der Antiquar. „Nein, mein Rücken wurde geröntgt, genauer gesagt, mein Rückgrat“, sagt D. in sehr schönem Hochdeutsch, mit einem leichten slawischen Akzent, „ich habe doch immer diese Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen, Schmerzen jedenfalls.“ Der Antiquar wiegt bekümmert den Kopf und sagt tröstend: „Ich habe Sinusitis, ich habe einen zu hohen Blutdruck, Gleichgewichtsstörungen und eine chronische Gastritis. Was willst du machen!“ D. hält sein Kuvert auf den Knien, die Adresse weist nach außen, daneben stehen, untereinander geschrieben, kurze Sätze über das Befinden des Kopfes resp. des Denkens, die, wie er erklärt, von seiner Hand stammen: „Da habe ich notiert, was mir so durch den Kopf ging, an Krankheiten. Diese subjektiven Wahrnehmungen, die hatte ich 94 zum ersten Mal, die subjektive Wahrnehmung von Schmerz – und genau zu dieser Zeit übrigens, hatte ich auch die ersten parapsychologischen Wahrnehmungen. Und seit 94 habe ich auch diese Schlange in meinem Gehirn. Der Antiquar schaut den Sprechenden prüfend und mit einem schalkhaften Zug um die Augen an: „Und sie sagt dir doch auch unsere Zukunft voraus, stimmt's? Wann geht die Welt unter, Nostradamus?“ „Nein!“, sagt D. ruhig, „du kannst mich nicht einfach am 20. Mai 1999, um dreizehn Uhr dreißig so was fragen. Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich denke über vieles nach. Normalerweise erzähle ich davon nichts, ich schreibe es auf, weil ich mich dann orientieren kann, orientieren muß. Denn seit ich unter Menschen ausgesetzt bin, unter fremde Menschen ...“ Dem Antiquar entschlüpft ein überraschtes „Oh!“. „Seitdem“, fährt D. fort, gehen bei mir, in meinem Kof, sehr viele Sachen verloren. Meine Konzentrationsfähigkeit ist sehr schlecht. Ich habe das Gefühl, ich muß die Menschlichkeit verlassen, um wieder geistig rein zu werden, um wieder ernst zu sein und aufnahmefähig.“ Der Antiquar rät: „Versuch's doch mal mit Ginko-biloba-Extrakt, das ist gut für die Gehirndurchblutung.“ D. winkt ab: „Das ist es nicht, ich lebe falsch! Ich lebe im Wohnheim, ich viel zu beengt. Ich bin psychisch labil, und außerdem, was das Wichtigste ist, ich bin innerlich eine Frau. Also ...“ Er hüstelt, lacht und erklärt: „Ich bin physisch Mann und psychisch Frau, und dazwischen ist mein eigentliches Ich, das Androgyne! Sieht man mir das an?“ „Also fürs Adrogyne bist du eigentlich ein bißchen zu sehr gepolstert“, sagt der Antiquar lächelnd. D. ruft gequält aus: „Das sind die Tabletten, die mich dick machen. Ich sehe normalerweise ganz anders aus als heute.“

„Ich kenne dich nur so, und ich kenne dich seit zweieinhalb Jahren!“ sagt der Antiquar streitsüchtig. „Das kann nicht stimmen!“ widerspricht D. „Seit 1997 habe ich mich verändert, vom Äußerlichen und innerlich. Von einer Hyperruhe, die ich hatte, veränderte ich mich zu einer Motorik von Angewohnheiten. Und das kommt daher, weil ich in meiner Seele leer bin, weißt du. Das macht mir das Leben unbequem – und es macht mich unbequem, für andere. Aber was kann ich denn dafür, wenn ich im falschen Körper bin, im falschen Kopf denken muß!“ Der Antiquar legt ihm beschwichtigend die Hand auf das Röntgenkuvert und fragt: „Wann hat das denn alles angefangen?“ D. überlegt laut: „Also ... Wann habe ich mich zum ersten Mal rasiert, wann war das, also meine Eltern mich erwischt haben ... Also ich glaube, da war ich so fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Und in diesem Moment genau fing das an, die Abneigung gegen das Gefühl, nun ein Mann sein zu müssen – oder werden zu müssen. Ich fühlte mich machtlos gegen diese zwangsweise Veränderung, und gegen die damit verbundenen Anforderungen von außen. Daswar meine Pubertät, der aussichtslose Kampf gegen die Vermännlichung. Ich wollte das nicht und konnte das nicht, das Raufen, das Sportliche. Kein handwerkliches Geschick, keine Kälte. Ich habe viel geweint und war verletzt.“ Frédéric, der elsässische Kirchenmaler kommt, setzt sich in seiner zurückhaltenden Art eine Spur abseits – gerade so viel, daß er noch als ein zur Gruppe Gehörender wahrgenommen wird – und zündet sich ein Zigarillo an. Sein Auftritt, just in diesem Moment ist auch deshalb merkwürdig, weil er das ganze Gegenteil zu sein schien von D. Er hat sich als Kriegswaise durchgeschlagen, durch Waisenhäuser und Klöster, er lief davon, war obdachlos und ging zur Fremdenlegion, wo er die wohl härteste Ausbildung durchlief, die ein Mann in der europäischen Männerwelt bekommen kann. Heute ist ihm davon nichts mehr anzusehen, jeder martialische Zug scheint verschwunden. Schweigend und in irgendwie schicksalsergebener Haltung, sitzt er vornübergebeugt und raucht. D. fährt fort: „In Deutschland habe ich mich noch weiter verändert – also ihr müßt wissen, ich bin Kroate, habe mit meinen Eltern aber lange in Slowenien gelebt – deshalb habe ich auch große Probleme hier, durch das alles. Ich habe viele Sachen von meinen Eltern geerbt, die mich hier fremd erscheinen lassen, nicht nur mein Äußeres. Dann bin ich, auch durch die Tabletten, sehr krank geworden, sehr schwach. Mein Gehirn ist lahmgelegt, aber es reagiert natürlich trotzdem, nur eben ganz träge, das macht mich verrückt. Ich bin gewohnt, daß ich mit meinem Kopf leicht und schnell denken kann, weißt du. Und dann, das andere Problem, wie fühlt man sich in einer Dominanzwelt, wenn man in einer Person Mann und Frau ist, umgeben von feindseligen und aggressiven Geräuschen und Bewegungen? Und weil ich äußerlich ein Mann bin, wird keinerlei Rücksicht genommen auf meine Hypersensibilität – ich war schon als Kind sensibel, aber seit mein Vater gestorben ist, bin ich hypersensibel.“

„Aber deine Mutter, die lebt ja noch“, bemerkt der Antiquar. D. nickt und sagt: „Aber mein Kontakt zu ihr ist nicht besonders gut. Ich muß gegenüber meiner Mutter diese Gefühle von Weiblichkeit unterdrücken, sie duldet das nicht, möchte mich hart und beherrscht sehen. Damit reizt sie mich bis aufs Blut. Ich glaube, mein Vater, der hätte mich als Frau vollkommen anerkannt, als androgyne Frau. Er hat mir nie eine Vorschrift gemacht. Aber ansonsten komme ich mit Männern sehr, sehr schlecht aus, ich mag sie nicht – Verzeihung, es gibt Ausnahmen – aber sonst ... da ist beispielsweise der Hausmeister in meinem Wohnheim, mit dem liege ich ständig im Streit. Ich habe ihn gerade gestern wieder angeschrien, denn mir mißfällt die Art, wie er herumkommandiert, wie er alles beherrschen will. Er ist ein dummer Mann, mit einem Auftreten wie ein Polizist, wie ein Hauptmann, der Befehle gibt und darauf besteht, daß alle ihn fürchten, daß alles so ausgeführt wird, wie er es anordnet. Er ist ein Kriegsmann, ein Freund des Krieges. Er weiß, was das Beste für den Menschen ist, im Wohnheim, in Jugoslawien und in der ganzen Welt: Ruhe und Ordnung, Fleiß und Sauberkeit! Schon alleine den Tonfall vertrage ich nicht. Diese Art von Männern, das ist wirklich krank. Er auch, er will alle dominieren. Ich hasse es, wenn mich jemand dominieren will, mich mißachtet. Dann fühle ich mich sehr verletzt. Wir sind Fremde, ja, aber wir sind auch Menschen! Ich bin sehr verwundet, wißt ihr, deshalb werde ich auch leicht aggressiv. Lieber möchte ich weinen – ich weiß, ich sollte weinen, mit meiner weiblichen Seele – aber ich werde aggressiv. Hier drinnen“, er zeigt mit dem Finger auf sein Brustbein, „da wohnt der Schmerz!“ Der Antiquar räuspert sich und fragt vorsichtig: „Und ... Entschuldige die Frage, es ist nicht Neugier, es interessiert mich ... Machst du es denn nun mit Männern oder mit Frauen ... den Sex meine ich?“ Noch bevor D. antworten kann, sagt Frédéric bestimmt: „Gar nicht!“ D. fragt verwundert: „Das stimmt, woher weißt du das? Aber es stimmt nur für den Moment. Schuld sind die Tabletten. Von meinem ganzen Gefühl her möchte ich keinen einzelnen Mann, keine einzelne Frau, sondern nur gruppenweise.“ Frédéric sagt ohne jeden Hohn: „Ja aber wie soll das dann zugehen, du bist ja ganz verklemmt?“ Der Antiquar kichert schadenfroh. D. ist leicht empört: „Ich bin nicht verklemmt, ich bin pervers! Das ist etwas ganz anderes. Aber ich bin momentan unfähig, leider, ich habe meine Kräfte verloren. Ich habe eine Behinderung, hierdrinnen! Es ist so, daß ich traurig bin und ich bin frustriert, gegenüber dem Amt und gegenüber dem Orthopäden. Ich fühle mich gedemütigt und mißverstanden, als gesamter Mensch.“ Die Röntgenaufnahme fällt zu Boden und wird gegen die Bank gelehnt.

„Und deshalb“, fährt D. fort, „werde ich morgen diese Nummer in London anrufen“, er zeigt einen Zettel, auf dem in gestochener Handschrift eine Londoner Adresse steht, „ich habe sie von der Britischen Botschaft. Das ist die Nummer vom amerikanischen Geheimdienst PSI in Londen. Ich habe gute Aussichten, ein Offizier zu werden, mit dieser Geheimnummer habe ich Zukunft. Wenn ich morgen dort anrufe, bei der Abteilung für psychokinetische Forschung, dann wird sich mein Leben verändern, ich kann endlich aus dem Wohnheim ausziehen. Ich werde Geld verdienen, in den Vereinigten Staaten würde ich endlich meine Anerkennung finden. Endlich bin ich soweit. Ich habe nämlich schon eine ganze Weile Parapsychologie studiert ...“ Der Antiquar sagt: „Ich wußte gar nicht, daß es schon so ein Studienfach gibt an der Universität?“ „Nicht an der Universität“, korrigiert D., „ich habe in meinem Wohnheim studiert, aus den Büchern“, er zieht ein sehr zerlesenes Taschenbuch mit knallbuntem Titelbild hervor, auf dem irgendwas von PSI steht und wedelt herausfordernd damit, „Da steht alles drin, was man wissen muß in einer Notlage. Wenn man zu den richtigen Leuten sich zählen kann, sind die Probleme zu Ende. Ich habe mich bewaffnet mit diesen Kenntnissen – während andere Leute Karten spielten oder vor dem Fernsehgerät lagen – habe ich die Zeit gut genutzt. Die Parapsychologie ist eine Wissenschaft der Zukunft ...“ Der Antiquar sagt mit überraschender Brutalität, aber charmantem Lächeln: „Die Parapsychologie ist etwas für Paranoide!“ D. stutzt einen Moment und sagt dann ruhig: „Das hat damit gar nichts zu tun. Es geht um außersinnliche Wahrnehmungsfähigkeit ...“ Frédéric wirft ein: „Das ist nichts für uns, wir haben ja mit der ganz normalen sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit schon Probleme!“ „Kann sein“, fährt D. fort, „aber ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe tatsächlich psychokinetische Befähigungen zur Gedankenübertragung, ich kann das Unglück vorhersehen, ich stehe im Kraftfeld der Schlange, sie sieht in die Zukunft voraus und kennt alle Geheimnisse ...“ „Dann frag doch deine Schlange mal“, sagt der Antiquar süffisant“, wie's mit dem Krieg gegen Jugoslawien weitergeht?“ D. schaut den Antiquar einen Moment lang schweigend an und sagt dann ohne zu zögern: „Im Juni werden Nato-Bodentruppen in das Kosovo marschieren ... „Mit den Deutschen?“ fragt der Antiquar? „Auch die Deutschen!“ weissagt D., „und dieser Krieg wird lange und schrecklich sein, viele Flüchtlinge werden in den Zeltlagern verhungern und erfrieren im Winter.“ „Aha!“ sagt der Antiquar, Frédéric verabschiedet sich und geht. „Es ist im Prinzip genau wie bei Nostradamus“, fährt D. fort, „aber durch die Tabletten bin ich etwas geschwächt, viele Dinge entgehen meiner Aufmerksamkeit. Aber die wirklichen Gefahren für die Menschlichkeit sehe ich ganz deutlich. Ich habe leider das gleiche Problem hier auf Erden wie damals Jesus Christus, weil ich einen Zufluchtsort suche und nicht finde. Deshalb vielleicht muß ich Frau sein, weil die Frau mit der Schlange im Bunde ist, und die Schlange symbolisiert die Erkenntnis – und beide symbolisieren sie das Eigentliche, das phallische Geschlecht ...“ Der Antiquar wirft kichernd ein: „Das falsche Geschlecht!“ „Unterbrich mich jetzt bitte nicht!“ fleht D. dringlich, „ich bin gerade dabei, meine Perversion zu schildern ... Deshalb verehre ich den Phallus, nicht den gewöhnlichen, sondern den Phallus aus Glas, er verleiht der Frau übernatürliche Kräfte.“

Hastig blättert er in seinem Buch, entnimmt eine Karte und reicht sie mir zuerst hin: „Dies hier zum Beispiel, ich habe da so eine Art Collage gemacht ...“ Zu sehen ist folgendes: Im Zentrum der Karte liegt eine nackte Blondine mit gespreizten Schenkeln und mimt onanistische Handlungen mit einer Champagnerflasche. Das Bildchen und auch die umrahmenden Wein- und Cognacflaschen, die ringsum aufgeklebt sind, scheint D. aus Pornoheft und Weinkatalog mangelhaft sorgfältig ausgeschnitten zu haben. Das Ganze wirkt, dafür, daß es offensichtlich ein stark besetztes Objekt ist, etwas provisorisch. Auf der Rückseite sind mehrere Champagnerflaschen wesentlich sorgfältiger ausgeschnitten und nebeneinandergeklebt. Ausgesucht teure Sorten, „Veuve Cliquot, La Grande Dame“, „Roederer Cristal“, „Moät Chandon“ und eine „Veuve Cliquot Brut“. Der Antiquar ist begierig, die Karte in die Hand zu bekommen, er hat bereits die Brille abgenommen, um besser sehen zu können. Nachdem er beide Seiten betrachtet hat, gibt er D. die Karte zurück und bemerkt: „Na, ob das schön ist, ich weiß ja nicht!“ D. legt die Karte wieder in das Buch und sagt: „Es geht nicht um das, was du da zu sehen glaubst, es kann vieles sein! Für mich ist es ihr Phallus. Leider hat dieser Phallus die falsche Farbe. Ich liebe alle Flaschen, alle, aber am liebsten sind mir die bauchigen Grünen, so wie die Veuve Cliquot mit dem orangefarbenen Etikett ...“ Der Antiquar zitiert kichernd: „Wie lieb und lustig perlt die Blase, der Witwe Klicko in ihrem Glase. Wilhelm Busch!“ Angefeuert von der kultivierten Assistenz, fährt D. fort: „Diese Flasche hat magische Bedeutung für mich, obwohl es teurere Marken gibt, für 200 und 300 Mark, habe ich diese am liebsten. Ich habe sie zum ersten Mal im Traum gesehen, sehr deutlich, und die Träume haben mich dann zu den Flaschen hingeführt, zur Liebe der Flaschen.“ „Aber du hast doch ein schweinisches Bild da gerade hergezeigt!“ wirft der Antiquar ein. D. schüttelt den Kopf: „Ich will das einmal so erklären, wenn ich diese Szene im Pornofilm sehen würde, dann wäre ich von der Flasche erregt, nicht von der Frau, nicht von der obszönen Handlung, allein der Anglick der Flasche würde mich erregen. Die Flasche selbst liebe ich! Ich hatte eine Sammlung, mit ganz seltenen Marken, zum Teil, da hat irgendein Idiot eines Tages gedacht, das sind leere alte Flaschen, die können weg ... Und eine neue Sammlung will ich mir momentan nicht zulegen. Ich habe auch zuwenig Platz im Wohnheim, und außerdem, was der wichtigste Grund ist, ich habe ja keine Sexualität mehr, momentan. Ich liege auf meinem Bett und höre immerzu Krach, und da ist nichts, absolut nichts, nur Leere, es kommt keinerlei Erregung auf. Aber trotzdem bin ich den paar Lieblingsstücken, die ich übrigbehalten habe, absolut treu, es soll nicht wieder passieren, daß fremde Leute sie anrühren, sie sind mir fast heilig, kann ich sagen.“ Der Antiquar lächelt wehmütig und murmelt: „Schön, wenn man irgendwann im Leben seine wirkliche Passion findet.“ D. überhört das Gemurmle und sagt entschlossen: „Morgen rufe ich an beim amerikanischen Geheimdienst und bewerbe mich für die 'Delta Analyse', ich bin der Richtige, ich habe das Wissen und Intuition, aber ich brauche Hilfe, ich brauche Entbindung. Ich brauche Heimat und eine Perspektive.