Querspalte

■ Taumeln mit Friedman

Mein Lieblingsverleser vergangene Woche: „Leben mit Abitur“. Ist das jetzt auch schon eine Krankheit? Dabei stellt sich momentan für Tausende Schüler die Seinsfrage: „Sind Sie eigentlich Abitur?“ CDU-Bildungsexperte Michel Friedman beweist, daß man sich als Schüler keine Sorgen über das Leben nach dem Abitur machen muß. Der Teilzeit-Talkmaster, der stets aussieht, als ob er morgens seinen Schädel in eine Schale Melkfett tunkt, damit die Worte um so öliger aus dem Kopf fließen, hat es mit geringer Denkleistung zu einem Meinungsführer-Posten in der deutschen Öffentlichkeit gebracht. In der zweitdümmsten Zeitung der Welt, der Springer-Postille B. Z., darf er sich in einem „Sonntags Essay“ über die in der Bildungspolitik versagende Bundesregierung ausmären: „Die wichtigsten Ressourcen unserer Gesellschaft sind junge Menschen, denen wir ein veraltetes, verkrustetes, gestriges Bildungssystem zumuten.“

 In dem Friedman gestern wohl ausgebildet wurde: Junge Menschen sind „Ressourcen“? Hilfs-, Geld-, Produktionsmittel für die Wirtschaft? Warum nicht gleich das ehrliche Wort „Menschenmaterial“? „Ich fordere, daß jeder Schüler neben Deutsch eine zweite Muttersprache lernt.“ Was schon nicht leicht ist, wenn man die erste kaum beherrscht: „Die Diskussion um Scheinselbständigkeit und 630-Mark-Jobs unterdrücken jede Lust auf Innovation, Experiment, Einsatz.“ Die Diskussion unterdrücken jede Lust? Ein gewagtes Sprachexperiment. Auch der Einsatz kühner Metaphern ist dem christlich-brillanten Zungenkünstler nicht fremd: „Wir können es uns (...) nicht leisten, in der Steuer- und Finanzpolitik im Karussell der Ziehung der Lottozahlen dahinzutaumeln“. Taumel der Sprache. Die Ziehung der Worte findet unter notarieller Aufsicht statt. Im Karussell des doppelten Genetivs. Was ein angenehmer Schwindel. Michael Ringel