Vom alten Staube befreit

■ Triumphaler Klassiker: „Die Jungfrau von Orleans“, neu aufgelegt von Matthias Hartmann, im Deutschen Schauspielhaus

Warum bei Klassikern immer nur an Goethe denken? Schließlich läßt auch sein Dichterkollege Friedrich Schiller nicht locker. In einer tatsächlich märchenhaften Inszenierung von Matthias Hartmann zeigt das Deutsche Schauspielhaus Die Jungfrau von Orleans und wischt mit Verve den Staub vom vermeintlich Altertümlichen. „Da laß' ich es richtig rauschen“, kündigte Hartmann auch bezüglich des anwesenden kleinen Orchesters an – und versprach nicht zuviel. Vom dramatischen Paukenschlag bis zur schmelzenden Geige entfaltet sich hier akustisch wie optisch ein voluminöses Gefühlsspektrum.

Im Zentrum des Geschehens steht Johanna d–Arc: Sie kämpft erfolgreich für ihr Frankreich gegen die englischen Invasoren – um dann zu sterben. Karin Pfammatter spielt beunruhigend überzeugend die zwischen Gottvertrauen und Zweifel an der auferlegten Bürde hin- und hergerissene junge Frau. Irritierend ist ihre Besessenheit, mitleiderregend ihre Unfähigkeit zur Reflexion.

Vor kitschig dräuendem Abendrot erfüllt sich das Schicksal. Trotz Hartmanns schamlosen Ja zum Pathos, wird die Tragik immer wieder gebrochen: Königin Isabeau (Ilse Ritter) läßt für ihren royalen Abgang das Orchester aufspielen und erntet dafür promt Szenenapplaus. Johannas mystische Konfrontation mit ihrem Gewissen taucht als überlebensgroße Projektion an der Wand auf; doch bevor der psychologische Zeigefinger zu aufdringlich wackelt, ernüchtert das vorbeiziehende Sony-Logo.

Zu den Figuren: König Karl (Stefan Merki) tritt als naiv-verspielter Geck mit Harlekinkrause auf, ohne das alberne Motiv zu überreizen. Dunois (Peter Knaack) und La Hire (Peter Wolf) buhlen um Johanna – und das ganz zeitgenössisch. Eine Spur selbstloser bemüht sich der leidenschaftlich-cholerische Lionel (Oliver Mallison) um Johannas Gunst. Gelassen und nachdenklich erscheint daneben Feldherr Talbot (Werner Rehm).

Zu der Johanna von Karin Pfammatter, die den Abend zu einem Muß macht: Eine höhere, sie und das Publikum verzaubernde Macht fährt in sie ein und nach zweieinhalb Stunden wieder heraus. Das ist so anziehend wie befremdlich, zumal der Zuschauer den aktuellen Bezug in Sachen „schöner Krieg“ selbst leisten muß. Ambivalenz jedoch ist nicht nur Johannas Kreuz: In den Jubel mischten sich Buh-Rufe, denen ich aber nicht zustimme. Liv Heidbüchel