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: Russischer Telefonsex

■ Gemeinsam nostalgiert es sich besser

Es gibt wirklich viele aufregende Sachen in Berlin: den neuen Reichstag neben dem Sowjetischen Ehrenmal, die neugeborenen Elefanten im Friedrichsfelder Tierpark, russische Telefonsex-Nummern ...

Dabei versucht eine verzerrte Frauenstimme vom Tonband einem Hoffnung zu machen: „Mein Freund, ich weiß, wie einsam du dich fühlst – in dieser grausamen, fremden Stadt, wo du jeden Tag durch die Straßen voll mit lauter Deutschen läufst – und niemand lächelt dir zu. Mach deine Hose auf, wir nostalgieren zusammen!“

Auf mich wirkt der russische Telefonsex ehrlich gesagt deprimierend. Gäbe es in der Stadt auch noch eine türkische Telefonsex-Nummer, könnte man sie vergleichen und daraus bestimmt eine Menge wertvoller soziologischer Erkenntnisse gewinnen.

Die russische Telefonsex-Nummer ist jetzt auch schon den Einheimischen zugänglich: Die größte russische Zeitung Russkij Berlin hat eine Kurzversion auf deutsch ins Internet gestellt. Wie unterscheidet sich der russische von normalem deutschen Telefonsex?

In erster Linie dadurch, daß die russischen Mädels auch mal selbst anrufen. Einmal habe ich eine solche Unterhaltung auf Kassettenrekorder aufgenommen und kann sie nun jederzeit noch einmal genießen, ohne dafür 3,64 DM pro Minute zu zahlen. Ich kann sie auch Freunden und Bekannten ausleihen, und zwar kostenlos! Sogar als Hörspiel für Radio MultiKulti kann ich sie aufbereiten, denn Telefonsex-Gespräche sind nicht geschützt.

Nachdem sich bereits mehrere Leute die Aufnahme angehört haben, kann ich nunmehr sagen: Der russische Telefonsex und wahrscheinlich auch der türkische hat eine noch viel größere Wirkung, wenn man die Sprache nicht versteht. Dann merkt man nämlich nicht, wie hinterhältig die Russen in Wahrheit sind – in diesem Fall, wie die Mädels schauspielern. Es sind sogar großenteils ausgebildete Schauspielerinnen unter ihnen.

Gestern rief mich ein bekannter deutscher Theaterregisseur an, er gastierte gerade mit seiner Schauspielertruppe auf einem Theaterfestival im sibirischen Tscheljabinsk – mit einem Stück von Heiner Müller.

„Wir waren die Krönung des Festivals“, erzählte er mir überschwenglich, „die lokale Presse hat sich vor Begeisterung schier überschlagen. Ich will die Zeitungskritiken jetzt zum Goethe-Institut nach Moskau schicken, damit sie uns dort weiterhin unterstützen. Aber zur Sicherheit kannst du sie vielleicht vorher noch mal lesen? Mein Russisch reicht dafür nicht aus.“ Er faxte mir daraufhin den Text zu. Die Überschrift war bereits äußerst merkwürdig: „Für den bissigen Hund sind sechs Meilen kein Umweg.“

Sodann schrieb die Theaterkritikerin aus Tscheljabinsk: „Was verbirgt sich hinter dem glänzenden Heiner Müller-Etikett bei der deutschen Truppe? Verachtung des Publikums, krankhafte Selbstbefriedigung oder völlige Ratlosigkeit gegenüber der Gegenwart? Die Polen waren zwar auch bekifft, dafür hatten sie aber mehr Kultur.“

Ist das nicht sauhinterhältig?! Wladimir Kaminer

Der intershop erscheint regelmäßig in Kooperation mit dem Radiosender MultiKulti