Wieder voll getroffen

■  Bei Luftangriffen der Nato werden wieder zahlreiche Zivilisten getötet. Das Bündnis spricht von legitimen Zielen und recherchiert

Auch gestern hat sich die Nato wieder selbst übertroffen. Das Bündnis brüstete sich, wie schon an all den Tagen vorher, die seit Kriegsbeginn bisher umfangreichste Angriffswelle mit rekordverdächtigen 772 Einsätzen, davon 415 Kampfeinsätzen, gegen Jugoslawien geflogen zu haben. Hauptziel der Angriffe seien serbische Truppen im Kosovo gewesen.

Das Kosovo trafen die Nato-Bomben. Jedoch serbischen Angaben zufolge einen Autokonvoi ausländischer Journalisten. Das serbische Medienzentrum in Pritina meldete, ein serbischer Fahrer sei getötet worden. Eine Mitarbeiterin der Londoner Zeitung The Times, der französischer Philosoph Daniel Schiffer, ein Reporter des Corriere della Sera sowie drei Mitarbeiter eines portugiesischen Fernsehsenders seien verletzt worden. Ein Journalist aus der Zentrale der Times in London sagte, nach seinen Informationen sei auch der Dolmetscher umgekommen.

Ein Sprecher des britischen Außenministeriums in London bestätigte die Verletzung der Times-Mitarbeiterin Eve-Ann Prentice. Nicht bestätigen wollte er, daß die Rakete von der Nato abgefeuert wurde. Die Nato konnte – auch das ist schon Routine – zu dem Vorfall zunächst keine Angaben machen. Es werde aber eine Untersuchung eingeleitet, sagte ein Sprecher.

Doch ein derartiges „Mißgeschick“ ficht die Strategen in Brüssel nicht an. Im Gegenteil. Ebenfalls am Sonntag mußten mindestens elf Zivilisten dran glauben, die sich gerade auf einer Brücke nahe der Stadt Kruevac befanden, als dort Nato-Bomben einschlugen. Immerhin: Die Nato bestätigte, daß die Brücke von vier Flugzeugen beschossen worden war. Jedoch: Es habe sich um ein legitimes Ziel gehandelt. Die Allianz könne Berichte über Opfer nicht bestätigen; Zivilisten würden aber nie mit Absicht angegriffen.

Zum Zeitpunkt des Angriffs hätten sich viele Menschen und Fahrzeuge auf der Brücke befunden, meldete die Belgrader Nachrichtenagentur Tanjug. Es habe 40 Verletzte gegeben, fünf schwebten in Lebensgefahr. Mehrere Autos seien in den Fluß gestürzt. Mindestens sechs Menschen würden noch vermißt. Augenzeugen, die den Opfern zu Hilfe eilen wollten, seien bei einem zweiten Angriff ebenfalls verletzt worden.

Doch die Nato wäre nicht die Nato, würde sie nicht weiter angreifen, diesmal die südserbische Kleinstadt Surdulica. Dort sollen nach Belgrader Angaben gestern morgen mindestens elf Menschen getötet und 37 verletzt worden sein. Wie das serbische Staatsfernsehen meldete, trafen drei Projektile die Pavillons der Lungenklinik und des Altersheims. Es sei zu befürchten, daß sich in den Trümmern weitere Tote befinden. Die meisten Opfer seien Flüchtlinge aus Kroatien. Die Allianz bestätigte kurz darauf auch diesen Angriff, sprach aber vom Beschuß einer Kaserne in Surdulica. „Das militärische Ziel wurde genau getroffen“, bemerkte Nato-Sprecher Jamie Shea. Über die Opfer gebe es keine unabhängigen Informationen. Überdies fühlte sich Shea bemüßigt, auf die genauen Flugvorbereitungen der Piloten hinzuweisen, die dazu dienen sollen, Schaden für Zivilpersonen und Zivileinrichtungen zu vermeiden. Vor jedem Einsatz würden vier Stunden die genauen Ziele besprochen. Wenn ein Pilot im letzten Moment Zivilisten am Einsatzort sehe, werde der Angriff abgebrochen. Da muß die Nato wohl noch etwas üben. Barbara Oertel