Schlagloch
: Fortgesetzte Weltenwechsel

■ Von Kerstin Decker

Sie sind sehr jung. Sie stehen vor dieser Brandenburger Dorfkneipe und warten. Sicher fällt ihnen die Lerche auf die Nerven. Und das Van-Gogh-Rapsgelb haben sie noch nie bemerkt. Es hat etwas seltsam Zielloses, ihr Nur-so-Dastehen. Sie sind, ahne ich plötzlich, einfach zu jung fürs Dorf. Und sind sie nicht auch – zu jung für die Demokratie?

Das Landleben und die Demokratie sind was für Menschen, die schon alles hinter sich haben. Für Erwachsene. Europa zum Beispiel ist schon sehr alt. Seine späte Jugend fiel wohl in die Zeit der Glaubenskriege. Der dreißigjährige dauerte am längsten. Irgendwann beschloß Europa da, erwachsen zu werden. Es ergab sich eine Ausgleichsform. Eine Befriedungsform. Eine Schadensbegrenzungsform. Eine Form der gemäßigten Mitte – Demokratie ist eine „Form danach“. Eine, die Inhalte voraussetzt. Eine Selbsterfahrungsform nicht. Jugend ist Selbsterfahrung.

Irgendwo hier muß Botho Strauß wohnen, ganz allein auf einem Hügel. Ziemlich undemokratische Lage. Strauß ist dem Archaischen näher als dem Demos. Kinder und Künstler sind so. Müssen wir deshalb Angst vor ihm haben? Strauß mißtraut den Brandenburgern auch. Früh geduckt, früh gealtert, gottlos, formlos, sagt er in „Die Fehler des Kopisten“. Sinngemäß. Der gleichmacherische Osten.

In dieser Diagnose treffen sich so unterschiedliche Charaktere wie Botho Strauß, der Dichter, Christian Pfeiffer, der Kriminologe aus Hannover, und Jutta Limbach vom Bundesverfassungsgericht. Der Osten halte, sagte Jutta Limbach anläßlich des 50. Geburtstages des Grundgesetzes, noch immer Gleichheit für wertvoller als Freiheit, „in scharfem Gegensatz zu den Westdeutschen“. Christian Pfeiffer entdeckt hier die Wurzel des jugendlichen Ausländerhasses im Osten. Für Limbach und Pfeiffer heißt der Gegenbegriff zur Gleichheit demokratisches Bewußtsein. Anders Botho Strauß. Für ihn gehören Gleichheit und Demokratie eher zusammen. Beides Worte für die Vernichtung von Qualitäten.

Natürlich könnte man sagen: Alles nicht so wichtig, Intellektuelle irren sowieso öfter, schon weil sie viel mehr lesen. Trotzdem, es muß ein Problem darin liegen. Ostdeutsche fallen unter die pädagogische Kategorie der Schwererziehbaren. Denn sie haben sich über viele Jahrzehnte angewöhnt, „denen da oben“ nicht zu glauben. Damit hört man nicht einfach auf, nur weil man neue Eltern bekommen hat.

„Für Freiheit und Demokratie!“ heißt es heute überall. „Für Frieden und Sozialismus!“ hieß es früher in der DDR. Klingt das nicht fast – gleich? Und hatte man nicht eine seltsame Erfahrung gemacht mit diesen Dingen, gegen die man so schwer sein kann, wenn man kein Misanthrop oder Monster ist?

Alltagsdenken ist Analogiedenken. Es registriert die Gemeinsamkeiten von Dingen, die ganz verschiedene Wurzeln haben können. Die Ostdeutschen kennen inzwischen schon zwei Alltagswelten und darum auch besonders viele Analogien. Das macht resistent. Resistent sogar gegen die guten Dinge. Gerade gegen sie. Und seltsam genug scheint die bundesrepublikanische Öffentlichkeit diesen Resistenzeffekt immer noch zu verstärken.

Denn sie läßt uns glauben, Demokratie heile alles. Ja, es handele sich gar um ein so hochwirksames Präparat, daß sich zeitgenössische europäische Staatswesen entschlossen haben, es einem besonders kranken und gewalttätigen Patienten jetzt gewaltsam zu verabreichen. Ob der Patient überlebt, ist im Augenblick noch unklar. Sind Schwerverletzte und Halbtote eigentlich besonders demokratiebegabt?

Die meisten Tatbestände des Lebens sind undemokratisch. Es gibt keine demokratische Liebe. Es gibt keinen demokratischen Tod. Es gibt kein demokratisches Schöpfertum (was größere und geringere Künstler allzeit zur Demokratieverachtung bewogen hat, in dramatischer Verwechslung des Eigenen und der Welt).

Kinderwelten sind undemokratisch, denn sie wiederholen unaufhörlich jene Herr-und-Knecht-Dialektik, die Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ beschrieb – den ursprünglichen Kampf um Anerkennung. Kinderwelten sind, genau wie Botho Strauß, dem Archaischen näher. Müssen wir deshalb Angst vor ihnen haben? Vor ihrer Rohigkeit. Ihrer Aggressivität.

Jugend ist – auch – amoralisch. Vormoralisch. Die Märchen wissen das. Deshalb schicken sie ihre Helden in die Welt hinaus. All diese Kraftproben, ehe man wieder nach Hause kommt und ein gütiger, weiser König wird. Also einer, der einen Begriff hat von Moral. Der ein Maßverhältnis anstelle der Maßlosigkeit setzt. Radikalismen sind pubertäre Maßlosigkeiten.

Aber wir sagen, der Jugend fehlen die Werte. Und der ostdeutschen besonders. Denn, so meint man, sie hatte schlechte Erzieher. Sie wisse nichts von Freiheit und der Würde des einzelnen. Man hat ihr einfach nichts davon gesagt. Darum schlage sie jetzt die Schwächsten. Die Ostdeutschen müßten Demokratie erst lernen. Der Historiker Daniel Goldhagen überlegte laut, Serbien zu besiegen, zu besetzen und umzuerziehen. So wie Deutschland – Westdeutschland – 1945. Jutta Limbach erinnerte sich kürzlich auch an 1945. Alles nicht so schlimm mit den Ostdeutschen, sagte sie, denn die Umfragewerte im Westen für die Demokratie wären damals auch nicht besser gewesen. Das komme alles noch. Man müsse es eben lernen.

Da ist es wieder, das bloße Analogiedenken. Man registriert Oberflächen-Parallelen. Aber man analysiert nicht. Wenn jedoch der Osten und Jutta Limbach, Christian Pfeiffer, Botho Strauß und Daniel Goldhagen genauso denken – analogistisch, nur in verschiedene Richtungen –, dann gibt das einen seltsamen Effekt. Denn Analogiedenken ist auch sehr affektiv, parodistisch beinahe. Als ich zum ersten Mal von Goldhagens Plan las, hielt ich das für eine geniale Parodie auf die Kriegsphilosophie überhaupt. Die Sache so weit treiben, bis sie ins Absurde kippt! Aber Daniel Goldhagen meinte es ernst.

Ein Bekannter dachte, als er zum ersten Mal von Christian Pfeiffers Analyse des Ausländerhasses in Ostdeutschland hörte, an Comedy. Aber auch Pfeiffer meinte es ernst. Wir haben es offenbar mit einer zunehmend sich selbst parodierenden Wirklichkeit zu tun, die ihre eigenen Parodien nicht erkennt. Warum nicht?

Gemeinsam ist Christian Pfeiffer, Jutta Limbach und Daniel Goldhagen offenbar das Vertrauen in die fast unbegrenzte Erziehbarkeit des Menschen. Aber Erziehung ist in Wahrheit kein Erziehungs-, sondern ein Übersetzungsproblem. Ein Übersetzungsproblem zwischen Welten. Wie spricht man hinein in fremde Welten? Als ob die unserer Kinder einfach für uns erreichbar wäre. Als ob nicht überhaupt jeder in seiner eigenen Welt existierte.

Welten entstehen durch Erfahrungen. Erfahrungen sind – undemokratisch. Die Konservativen haben dafür seit je einen Sinn besessen. Die moderne Humanität, diese Similisonne des Menschentums, sei den guten und den bösen Geistern, den Höhen und den Abgründen gleich weit entfernt, sagte Ernst Jünger. Sie sei ein Traum, wie ihn ein Straßenbahnpassagier um drei Uhr nachmittags träumt, eine Angelegenheit der Straßenbahnpassagiere überhaupt. „Es ist unmöglich, an ihr teilzuhaben, insofern man Krieger, Gläubiger oder Dichter, Mann, Weib oder Kind ist, ja schon insofern man die fehlende halbe Flasche Sekt im Leib hat.“ Ernst Jünger irrte. Erst wer all das weiß, mag zum Demokraten taugen. Demokratie ist das Reflexivwerden der Anfänge.

Die Liebe ist nicht demokratisch, der Tod auch nicht

Will der Westen alle erziehen, die nicht so sind wie er?