Abenteuerspielplätze des Geistes

■ Die poetischen Potenzen der Idiotie: der Dokumentarfilm Kopfleuchten im 3001

Manchmal ist die Seele weiß. Manchmal ist eine Streichholzschachtel ein heimtückisch verkleideter Flaschenkühler oder ein verzauberter Belichtungsmesser. Manchmal schütteln sich Gut und Böse achselzuckend beim Ewigkeitsendegott die Hände und lassen die Welt wie eine Gummiente auf der knisternde Oberfläche der Mysterien schwimmen.

Das Geheimnis der Dinge beginnt im Kopf. Und in jedem raunt eine andere Strophe vom großen Ganzen. Und wer tickt schon genau, wenn man vor lauter Metronomen – von vorlauten Paradigmen des Wissens bis zu hilflosen Übereinkünften in Sprache und Wahrnehmung – gar nicht weiß, auf welches man nun hören soll. Deswegen schließt Gerhard im Park die Augen, stülpt sich ganz nach innen, lauscht, strahlt und nimmt die Arme hoch, um den einen Gedanken, den einen Traum, die eine Klarheit, eben „das große Kopfleuchten" zu umarmen.

Erwähltsein ist schießlich nur eine Frage der Perspektive. Darum macht die kluge Kamera in Mischka Popps und Thomas Bergmanns Kopfleuchten hier einen höflichen Knicks. Ihr Dokumentarfilm ist ein ebenso berührender wie faszinierender Streifzug über die verborgenen Abenteuerspielplätze des Geistes, jenseits der abgemachten Koordinatensysteme von Sinn und Irrsinn, Zeit und Raum, von Kontinuität und Identität. Es geht um die poetische Potenzen der Idiotien. Um Parallelwelten, in denen auch Grauen und Angst andere Masken tragen. Dort gibt es Vergeßliche, die ihr Haus, ihre Familie, ihr eigenes Spiegelbild jeden Tag zum ersten Mal sehen. Liebe oder Haß, Verzweiflung oder Euphorie – alles nur ein Roulettefeld in der Ewigkeit des Vorläufigen. Alles ist jetzt. Alles verschwindet. Erinnerung ist etwas für Zweitagsfliegen.

Kopfleuchten porträtiert Menschen, die Fahrpläne aus den letzten zwanzig Jahren im Kopf haben, aber keine Ahnung von der Wegstrecke ihres Körpers. Oder Bert-hold mit den 37 Ticks, der mit fremder Stimme aber aus den Kellerräumen der eigenen Seele „Votze" oder „Arschloch" schreit, grunzt und stöhnt, brüllt und schnalzt, die Zunge rausstreckt, den Hals in den Nacken schmeißt, die Augen rollt und das alles auf einmal in einer spastischen Choreographie. Als das sogenannte Torett-Syndrom haben es die medizinischen Nachschlagewerke notiert. Als ein Schluckauf im Gehirn wird die zerebrale Stoffwechselstörung anschaulicher. Für Christian kommt das Syndrom zumeist auf den Katzenpfoten des Unkalkulierbaren daher. Auch Ruhe wird eine launische Angelegenheit: „Eigentlich kommt die Ruhe zu mir, wenn sie will und nicht, wenn ich will".

Ticks kennen kein Erbarmen und keine zivilisatorischen Empfehlungen. Sie sind das lautstarke Unbehagen an der Kultur, wie Freud das kulturelle Bollwerk „Tabu" gegen die Angst vor dem Undomestizierten übertitelte, und genau die legt sich als Unerhörtes auf Christians Zunge, wenn er ungebremst von jedem Anstand „Heil Hitler!" kräht. Kaum ein Gespräch, bei dem er nicht zuckt, zappelt, nicht Obszönes oder Schlimmes herausbrüllt. Nur wenn er am Klavier sitzt, will sie wohl immer. Dann kommt die Ruhe und streicht alles Zucken aus seinem Gesicht.

„Was träumen Sie, wenn ich mal fragen darf?" fragt Burkhardt sehr freundlich. Und Co-Regisseur Thomas Bergmann antwortet irgendetwas mit Fliegen. In so unverkrampften und authentischen Momenten fliegt Kopfleuchten tatsächlich aus dem Rahmen artig ambitionierter TV-Produktionen. Bilder, in denen die Kamera an Kachelwänden vorbeihuscht, zwischen denen ein Mann sich den Kopf einwickelt, unterfüttern das Reportagengerüst mit surrealen Inlets. Oder mit poetischen Exkursionen wie jenen leckenden Leitungen der Anfangssequenz, zu denen eine Off-Stimme mechanistische Daten zur Quadratur des Geistes vorträgt: „100 Milliarden Zellen, eine Millionen Kilometer Leitungssystem. Die komplizierteste Struktur des Universums - tickt, tickt nicht, tickt, tickt nicht richtig..."

Birgit Glombitza

Do, 3. bis Mi, 9. Juni, 20.30 Uhr, 3001