■ Die Rituale der Kulturkritik und die ICE-Katastrophe
: Die Lehren aus Eschede

Der britische Politiker Thomas Creevy schrieb 1829 nach einer Eisenbahnfahrt, die kaum schneller als fünfzig gewesen sein dürfte: „Es ist wie ein Flug, und es ist unmöglich, sich von der Vorstellung eines sofortigen Todes aller bei dem geringsten Unfall zu lösen.“ Interessanterweise reagierte die Öffentlichkeit auf die Katatrophe von Eschede vor einem Jahr mit ähnlichen Assoziationen. Kaum eine Zeitung, in der der ICE nicht mit einem Flugzeug verglichen worden wäre. Die Hybris, wurde nahegelegt, auf der Erde fliegen zu wollen, war ein Grund für das Unglück. Wahrscheinlich kehrt in jeder Unfallkatastrophe die verdrängte, in Gewohnheiten verschwunden geglaubte Angst wieder.

War nicht schon die stromlinienförmige, Bequemlichkeit versprechende Ästhetik des ICE verdächtig? Ein Versuch, zu verbergen, daß man mit 200 km/h durch die Gegend rast? Der ICE, der glatte, schöne Körper, war Täuschung – die Wirklichkeit war so blutig und schlimm, daß vor einem Jahr weder Fernsehen noch Zeitungen es wagten, ein Bild davon zu zeigen. Nur sprachlose, tapfere Helfer offerierte damals das TV im Minutentakt, um eine Ahnung zu vermitteln, was geschehen war.

Die Ästhetik des ICE war ein gebrochenes Versprechen – nun kannte man die Wahrheit. Doch die Verhüllung des Risikos ist nicht neu; sie gehörte von Beginn an zur Eisenbahn. Die Einführung der Sitzpolsterung im 19. Jahrhundert verfolgte kein anderes Ziel als das (Erste-Klasse-)Publikum vergessen zu lassen, wie schnell man fuhr. Ästhetik und Komfort, die Ausstaffierung der frühen Luxuswagen zu plüschigen Wohnzimmern, dienten stets der Angstdämpfung. So sollte dem Publikum Souveränität suggeriert werden. Der Blick des Reisenden verwandelte sich entsprechend: Creevys Zeitgenossen, die ersten Eisenbahnfahrgäste, ängstigte gerade die vorbeirauschende Landschaft. In der Eisenbahn war man kein Teil der Natur mehr, man war Teil einer Maschine, die die Grenzen der natürlichen Geschwindigkeit aufhob. „Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig“, schrieb Heinrich Heine 1843.

Die Furcht vor der Entwirklichung, vor der Zerstörung des natürlichen Raum-Zeit-Verhältnisses durch die technische Geschwindigkeit, verblaßte mit der Gewöhnung: Die vorbeifliegende Landschaft war bald kein Grund zu Beunruhigung mehr – im Gegenteil. Mit dem Blick aus dem Fenster beherrschte der Reisende die Landschaft. So konnte er sogar, wie um die überwundene Angst zu demonstrieren, lesen. Die getönten Scheiben des ICE, die Möglichkeit, Video zu schauen, die Anmutung eines nach außen vollkommen abgeschlossenen Raumes, der wie ein Geschoß durch die Gegend saust – nichts davon ist neu. Es ist, perfektioniert, das gleiche Prinzip wie jenes der frühen Eisenbahnen.

Die ICE-Katastrophe war kein „Menetekel“, wie Ekkehart Krippendorff vor einem Jahr schrieb, das uns zur Umkehr mahnt. Eschede war kein Zeichen, daß wir ablassen müssen von dem Tempowahn, dem wir die Toten von Eschede geopfert haben. Diese Art von reflexhafter Kulturkritik übersetzt einen technischen Defekt, einen geplatzten Reifen, in Kategorien von Schuld und Sühne. Eschede wird darin zum Signal unserer Hybris. Nur wenn wir diese Botschaft verstehen, können wir die Sünde büßen.

Diese Kritik riecht streng fundamentalistisch. Dahinter spannt sich ein grundsätzliches Nein zur Moderne auf. Auf den Modernisierungsfetischismus, der alles, was man machen kann, auch machen muß, antwortet jene Kritik mit pauschaler Negation. Doch eine gezähmte Moderne zu wollen, die ihren eigenen Wahn kennt, kann nicht heißen, die Emanzipation des Menschen von der Natur als Sündenfall, die technische Beschleunigung als Entfremdung zu deuten.

Zum technischen Fortschritt gehört die Dialektik von Erfindung und Unfall. Jede Großtechnologie hat Unfälle produziert, die einen Lernschub auslösten. Diese Dialektik setzt aus, wo Katastrophen, wie bei der Atomkraft, ein solches Ausmaß haben, daß sie keinesfalls passieren dürfen. Eschede war ein mechanischer Unfall – schockierend, aber er betraf eine Technik, deren Beherrschbarkeit seit 150 Jahren außer Frage steht. Als Symbol für die Irrtümer der Moderne taugt Eschede nicht. Stefan Reinecke