■ Veranwortliche nun im Vorstand der Bahn gesucht

Ein Jahr nach dem Schnellzugunglück von Eschede konzentrieren sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auf die Chefetagen der Bahn. Bis Ende des Jahres will die Lüneburger Sonderkommission 200 Aktenordner mit Vorstandsunterlagen auswerten, die sie bei der Deutschen Bahn in Frankfurt und Berlin beschlagnahmen ließ. Nach Angaben von Oberstaatsanwalt Jürgen Wigger soll dabei festgestellt werden, wer bei der Bahn für die Entwicklung, die Zulassung und das Wartungssystem gummigefederter Räder am Inter-City-Expreß (ICE) die Verantwortung trug. Die sogenannten stählernen Radreifen sitzen auf einem Gummipolster. Ein Radreifen war am ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ gebrochen und hatte so das Bahnunglück mit 101 Toten bei Eschede ausgelöst.

Ein vorläufiges Gutachten des Fraunhoferinstituts in Darmstadt hat die Ermittlungen weiter in Richtung Unternehmensspitze gelenkt. „Die Zulassung der gummigefederten ICE-Räder im Jahre 1992 entsprach nicht dem damaligen Stand der Sicherheitstechnik“, gibt Oberstaatsanwalt Wigger die Quintessenz des Gutachtens wieder. Diese Zulassung, die ein Abfahren der Radreifen bis auf 854 Millimeter erlaubte, hätte nicht erteilt werden dürfen. Die Darmstädter Gutachter halten nur eine Abnutzung auf 890 Millimeter für vertretbar – die Radreifen des Unglückszuges maßen zuletzt eine Stärke von 862 Millimetern. Gegen die Verantwortlichen bei der Bahn besteht nun der Verdacht, daß sie sich der 101fachen fahrlässigen Tötung schuldig gemacht haben. Zudem wird der Vorwurf erhoben, daß letztlich wirtschaftliche Gründe gegen einen häufigeren Austausch der Radreifen standen.

Die Bahn AG hat schon im vergangenen Sommer alle gummigefederten Räder, die ansonsten weltweit nur bei Straßenbahnen üblich sind, bei ihren ICE-Schnellzügen durch Vollräder aus Stahl ersetzt. Darüber hinaus überprüft sie derzeit ihre gesamte Streckenplanung daraufhin, ob etwaige Weichen vor Brücken oder Tunneln tatsächlich notwendig sind. Dabei hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg bis heute nicht geklärt, ob die Weiche vor der Straßenbrücke, an der der ICE zerschellte, bei der Katastrophe überhaupt eine Rolle gespielt hat. Möglicherweise sprangen die hinteren ICE-Wagen allein durch die heftige Bremswirkung der vorderen entgleisten Wagen aus den Schienen.

Fest steht allerdings, daß das Unglück auch durch gravierende Schwächen des ICE-Wartungssystems verursacht wurde. Meldungen des Zugbegleitpersonals über einen fehlerhaften Lauf der Achse wurden nur als „Komfortproblem“ eingestuft – eine Vorgehensweise, die den bahninternen Vorschriften entsprach. Eine Ultraschallmessung, die kurz vor dem Unglück eine nicht mehr zulässige Unrundheit des Radreifens ergab, blieb unbeachtet.

Derzeit vergleicht die Bahn ihre Wartungssysteme mit denen der Lufthansa. Außerdem gilt inzwischen bei allen Wartungsprüfungen das Vieraugenprinzip. Erprobt werden auch Gleismeßstellen, die die ICE-Laufwerke automatisch überwachen. Jürgen Voges, Hannover