An der Schnittstelle des Chaos

Das Eisenbahnunglück von Eschede. Ein Jahr danach. Man streitet sich über das richtige Gedenken, die Bahn übt den professionellen Umgang mit dem Trauma, und die Helfer von damals sollen lernen zu reden  ■   Aus Eschede Heike Haarhoff

Zum dritten Mal kreuzen sich nun schon ihre Wege wie zufällig. In dem kleinen Ortskern, der so menschenverlassen ist wie Dörfer in der Lüneburger Heide abends nach Geschäftsschluß menschenverlassen sind, haben sie, jeder für sich, die backsteinroten Gebäude, die Autos, die Straßenschilder betrachtet. So, als müsse hier jeden Moment das Katastrophale, Niedagewesene geschehen. So als müsse Eschede halten, wofür sein Name seit einem Jahr steht.

Am Bahnhof hat sie von einem Bauschild abgeschrieben, daß hier „im Rahmen des 150. Bahnhofsjubiläums“ demnächst ein „vergrößertes Empfangsgebäude“ sowie „P+R-Plätze“ entstehen. Er hat das Schild fotografiert, in dem Moment, als ein ICE auf den Gleisen dahinter vorbeijagte. Und jetzt treffen sie sich schon wieder – schweigend, suchend, oben auf dem Bahndamm, wo bis zum 3. Juni 1998, 10.59 Uhr über die Schienen eine Autobrücke von Eschede in den Nachbarort Rebberlah führte und wo jetzt nur noch ein großes Loch klafft, umrahmt von Kränzen und Blumengebinden, die der 88 Verletzten und der 101 Menschen, die bei dem größten Bahnunglück Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen, gedenken sollen. Ein Ort, an dem man sich nicht zufällig trifft. An dem das Gespräch unvermeidlich wird. „Und, hast du deine Eschede-ein-Jahr-danach-Geschichte gefunden?“ – „Weiß nicht.“

Eschede war ein Schock, ein Trauma, das von Ausmaß des Unfalls und Zahl der Toten mit nichts vergleichbar ist. In gewisser Weise der Preis für die Mobilität, in jedem Fall aber das Ende der Technikgläubigkeit – sagen Überlebende wie Hinterbliebene, Helfer, Seelsorger, die Bahn, die Medien. Eschede hat verändert. Wirklich?

Frank Waterstraat wird den Geruch nicht los. „Ich kann das jederzeit abrufen“, der freiwillige Feuerwehrmann aus Hameln rümpft die Nase, „dieses Gemisch aus Sand, Staub, Öl, Dreck, Plastik und – Verwesung, es war ja heiß damals.“ Und es gab „dieses Gefühl, auf die Unfallstelle zuzufahren, nicht ausweichen zu können“. Sich „wie in einem schlechten Film“ vorzukommen, der sich nicht abschalten ließ und in dem, berichten andere Helfer, inmitten des Chaos Helmut Kohl aufkreuzte und stilles Wasser forderte. Ein absurdes Drama, in dem er, Waterstraat, zum Darsteller wurde. Einem, der wußte: „du stehst auf Toten“. Einem, der mit ansah, „wie meine Kollegen Menschen neben sich, zur Unkenntlichkeit entstellt, sterben lassen mußten, um andere zu retten“. Und einem, der, weil er nicht nur Feuerwehrmann ist, sondern auch Pastor, „einfach dasein wollte“, sie in den Arm nahm, die Helfer vom Roten Kreuz, von der Johanniter-Unfallhilfe, die Ärzte, sie schreien ließ, ihnen zuhörte.

Eschede, ein Jahr danach. Stephan Heimbach trägt gern seinen schwarzen, viereckigen Schaffnerkoffer anstelle einer Aktentasche mit sich, wenn er mit der Presse verabredet ist. Sollen ruhig alle sehen, wo er herkommt. „Es bringt ja nichts, wenn wir anfangen zu mauern. Wir müssen uns der Situation und dem Gespräch stellen“, sagt der Sprecher der Deutschen Bahn in Berlin. Als er und die Bahn sich arbeitsvertraglich füreinander entschieden hatten, war der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ noch nicht entgleist, und die Sicherheit des Schienenverkehrs öffentlich zu vermarkten schien eine attraktive Aufgabe. „Aber als ich dann anfing, da war Eschede ganz frisch.“ Er hätte einen Rückzieher machen können, tat es nicht. „Ach, ich bereue das in keiner Weise.“

Nachdenklich soll es klingen, dieses „Wir können die Toten nicht lebendig machen“, versöhnlich vielleicht jenes „Ich scheue mich nicht zu sagen, daß wir auch unsensibel waren“. Es gab Tote, an deren Adresse sich die Bahn mit Werbebrief zwecks Verlängerung der BahnCard wandte. Unglückliche, peinliche Pannen, sicher. Wie viele Fragen hält er die einstudierte Rolle durch?

Ob die Bahn nicht hätte wissen müssen, daß sie den Unglücks-radreifen so nie hätte einsetzen dürfen? Ob Brücken mit Zwischenstützpfeilern, an denen der ICE zerschellte, und auf die deswegen bei dem Brückenneubau in Eschede verzichtet wird, nicht auch an zahlreichen anderen Strecken als Gefahr lauerten? Welche Veränderungen sich denn für den Abschnitt Eschede ergäben, wenn, wie Heimbach sagt, die Bahn nach dem Unfall ihr Konzept für Hochgeschwindigkeitsstrekken komplett überarbeitet habe? Das reicht. Er fühlt sich provoziert. Erklärt patzig, „Brücken sind kein generelles Sicherheitsrisiko“. Verweist arrogant auf „8.000 Unfalltote jährlich auf der Straße“. Belehrt, daß „Eschede überhaupt keine Hochgeschwindigkeitsstrecke ist“. Hat genug von der Plauderei, die so nett begonnen hatte: „Wissen Sie, wir müßten, solange die Schuldfrage nicht geklärt ist, gar nichts tun.“

Eschede, ein Jahr danach. „Ich sage Ihnen, es ist für jeden belastend, der sich an die Schnittstelle von Schöpfung und Chaos begibt.“ Für einen Moment ist es so, als sei Frank Waterstraat, der Feuerwehrmann, wieder vor Ort, aber ein Blick auf die Wand rückt die Dinge zurecht: Die Fotos von den ineinandergekeilten Waggons, die er dorthin projiziert hat und die vor einem Jahr durch die Fernsehhaushalte der Republik flimmerten, dienen nur zur Dokumentation. Waterstraat, der 36jährige Feuerwehrmann mit Pastorenausbildung und Lehrerjob an der Landesfeuerwehrschule in Celle, steht im Seminar vor 50 erfahrenen Feuerwehrmännern in dunkelblauer Uniform, die sich fortbilden lassen, wie sie „belastende Einsatzerfahrungen bewältigen“.

Waterstraat, in Jeans und Lederweste, ist der einzige nicht Uniformierte. Er turnt vorn rum, schreibt ein „Diagnoseraster für Streßsymptome“ an die Tafel, sagt ernst: „Verkehrsunfälle mit Toten können Ihnen die Beine wegschlagen, machen Sie sich da nichts vor.“ 50 Augenpaare richten sich auf ihn. „Deswegen ist es unerläßlich, daß Sie darüber reden, nicht während des Einsatzes, aber hinterher, und zwar in der Gruppe.“ Keine Reaktion. „Nehmen Sie es ernst, wenn sich einer Ihrer Kollegen plötzlich völlig zurückzieht, es kann eine Warnung dafür sein, daß er mit der Situation nicht zurechtgekommen ist und jetzt Ihre Hilfe braucht.“

Hilfe, im Jahr nach Eschede. Die Bahn hat einen Ombudsmann eingesetzt, den ehemaligen Vize-präsidenten des Bundessozialgerichts, Otto Ernst Krasney. Der soll zwischen Opfern, Hinterbliebenen und Unternehmen vermitteln. 10 Millionen Mark sind laut Bahn bislang geflossen auf „unbürokratischem Weg“ und als „materielle Hilfe“ für diejenigen, die es allein nicht fertigbringen, die Wohnung ihrer Eltern aufzulösen. Oder für diejenigen, die durch einen Tag im vergangenen Juni plötzlich gezwungen sind, ihre überlebenden Enkel an ein Schulsystem heranzuführen, das ihnen selbst völlig fremd ist.

Und jetzt sind viele dieser Menschen auch noch undankbar. Die Gedenkstätte, die Architekten oben am Bahndamm entworfen haben und die die Bahn finanzieren will, empfinden sie als „katastrophal“. Heinrich Löwen hat sich extra zwei Tage frei genommen deswegen. Zwei Tage, um aus dem bayerischen Vilshofen nach Celle, der Kreisstadt nahe Eschede zu reisen, wo an diesem Nachmittag die „Arbeitsgruppe Gedenkstätte“ mit Schaubildern und Graphiken vorführt, wie „einstimmig“ Landrat, Gemeindedirektor, Kirche, Ombudsmann, Architekt und Bahn sich das Gedenken so vorstellen: Zwei Eisentafeln, jede fünf Meter hoch und acht Meter lang, sollen versetzt oben in den Bahndamm gerammt werden, wo einst die Brücke war.

Eine Schrifttafel mit Erläuterungen zum Unglück, die andere mit den Geburtsdaten der 101 Verstorbenen. Dahinter, schlägt der Architekt vor, könnte sich der eigentliche Gedenkbereich, eine Plattform aus anthrazitfarbenem Granit anschließen, die Böschung könnte zur „Versöhnung mit der Landschaft“ mit 100 Kirschbäumen bepflanzt, die Tafeln eventuell mit einer Hainbuchenhecke berankt werden, und hinten im Saal treibt jedes weitere Wort Heinrich Löwen die Zornesröte dunkler ins Gesicht. Er will etwas sagen, er hat in dieser verdammten Eisenbahn seine Frau und seine Tochter verloren. Daß er deswegen ein Mitspracherecht haben muß bei der Gedenkstätte, versteht das denn niemand, und daß er darauf besteht, daß außer den Geburtsdaten auch die Namen und die Herkunftsorte der Verunglückten genannt werden: „Unsere lieben Toten waren unverwechselbare, einmalige Menschen! Sie ihrer Namen zu berauben, ist eine grobe Verletzung ihrer Würde.“

Aber das alles ruft er dann doch nicht in den Saal mit den mehr als 100 Versammelten. Was wäre das auch für ein Auftritt, von ihm, Löwen, der die „Selbsthilfe Eschede“ für die Hinterbliebenen ins Leben gerufen hat? Also verteilt er schweigend Flugblätter mit seinem Appell, die Konzeption der „erdrückenden“ Gedenkstätte noch einmal zu überdenken, während auf der Bühne der Landrat zu beschwichtigen sucht: Es gehe doch nicht darum, irgend jemanden zu düpieren, sondern „um den Datenschutz“.

Lernen aus Eschede? Nach eineinhalb Stunden Unterricht in der Landesfeuerwehrschule läßt Frank Waterstraat sich auf einen Stuhl fallen. „Diese Klientel“, sagt er, „denkt technisch, ursachenbezogen und auf Effektivität hin.“ Schwer sei es, an sie heranzukommen. „Die gehen oft mit ihren Löschfahrzeugen besser um als mit sich selbst.“ Doch seit Eschede, hat der Feuerwehrseelsorger festgestellt, seit bekannt wurde, daß einige der toughen Kerle, die noch jeden Brand gelöscht und so manchen Schwerverletzten aus Autowracks geborgen hatten, monatelang berufsunfähig geschrieben wurden oder gar in der Psychiatrie landeten, wird die Betreuung von Rettungskräften keineswegs mehr als „Nummer von Psychos“ verlacht. Von 1.500 Einsatzkräften haben ein Drittel bislang das Informations- und Beratungsangebot der „Koordinierungsstelle Einsatznachsorge“ genutzt, das in Eschede erstmals nach einem Unglück eingesetzt wurde. Unsicher ist, ob Bund und Land die Hilfe für die Helfer über den Sommer hinaus finanzieren werden.

Auch das eine Geschichte ein Jahr nach Eschede.