Hoffen auf die nächste Schaufel Erde

Jahrzehntelang wußten die Angehörigen von IRA-Opfern nichts über deren Verbleib. Jetzt hat die IRA mehrere Orte benannt, wo die Leichen vergraben sein sollen. Doch die Suche ist bisher ergebnislos  ■   Aus Carlingford Ralf Sotschek

„Wasserqualität gut“, heißt es auf dem blauen Schild am Strand von Templetown nahe der nordirischen Grenze. Die Sonne scheint, die Irische See vor der Cooley-Halbinsel ist spiegelglatt. Ein Trecker zieht ein Holzboot auf einem Anhänger über die Dünen. Dahinter, auf der anderen Seite der Grenze, liegen die Berge von Mourne im Abenddunst. Doch die Gruppe von zwölf Menschen, die auf dem kleinen Parkplatz an einem Auto steht und Kaffee aus Thermoskannen trinkt, ist nicht für einen sommerlichen Ausflug hergekommen.

Die hintere Hälfte des Parkplatzes ist durch einen Metallzaun abgesperrt, darüber sind blaue Plastikplanen als Sichtblenden gespannt. Von der Düne aus kann man hinter den Zaun blicken. Ein roter Bagger schaufelt Erde aus einem Loch, vierhundert Quadratmeter groß, gut zwei Meter tief. Ein riesiger Berg Sand ist auf der zum Meer gelegenen Seite aufgeschichtet. Polizisten durchkämmen jede Schaufel Sand, bevor sie abgeladen wird. Sie suchen die Leiche von Jean McConville, Mutter, Großmutter und Urgroßmutter der zwölf Menschen.

Sie wäre heute 64 Jahre alt. Doch Jean McConville ist vor 27 Jahren von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) getötet worden, weil sie einem sterbenden britischen Soldaten nach einem IRA-Anschlag ein Gebet ins Ohr geflüstert haben soll. Wahrscheinlich hat man sie aber umgebracht, weil die IRA sie verdächtigte, Informationen an die britische Armee weitergegeben zu haben, doch die waren wohl eher unbedeutend. Ihre Leiche wurde nie gefunden, die Angehörigen hatten bisher gemeint, sie sei unter irgendeinem Haus in Belfast begraben.

Jean McConville gehört zu den dreizehn Menschen, die seit 1972 von der IRA ermordet und an geheimen Orten vergraben worden sind. Ihre Tochter Helen und deren Mann Seamus McKendry haben seit fünf Jahren dafür gekämpft, daß die IRA die Leichen herausgibt, damit sie auf einem Friedhof bestattet werden können. Bis dahin sei der Trauerprozeß für die Angehörigen nicht abgeschlossen, sagt Helen McKendry.

Sie ist das älteste von zehn Kinder. Als ihre Mutter Weihnachten 1972 von acht Männern und vier Frauen aus der Wohnung in den Divis Flats in Belfast entführt wurde, war Helen gerade 15. Kurz zuvor war ihr Vater gestorben. Helen McKendry kümmerte sich um ihre Geschwister, bis das Sozialamt die Kinder auf verschiedene Waisenhäuser aufteilte. Nachdem sie 1994 ihre Kampagne begonnen hatte, um die IRA zur Herausgabe der Leiche ihrer Mutter zu bewegen, wurden sie und ihr Mann von der lokalen IRA-Einheit aus ihrem Belfaster Haus vertrieben.

Erst im März dieses Jahres, bei den zähen Verhandlungen um die Ausmusterung der Waffen, willigte die IRA ein, über den Verbleib der „Verschwundenen“ Auskunft zu geben. Die Regierungen in London und Dublin versprachen, keine forensischen Untersuchungen an den Leichen oder ihren Fundorten durchzuführen, die zur Ergreifung der Beteiligten führen könnten, vorige Woche wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Danach veröffentlichte die IRA eine Liste mit neun Namen, einen Tag später ging ein Hinweis auf einen Sarg unter einem Holunderbusch auf dem Faughart-Friedhof, gar nicht weit vom Templetown-Strand, ein.

Er enthielt die Überreste von Eamonn Molloy, einem IRA-Mann, der Polizei-Informant geworden war und 1975 von der IRA erschossen wurde. Die Polizei war überrascht, denn Molloys Eltern hatten ihn nie als vermißt gemeldet, weil sie glaubten, er sei nach England geflüchtet. Sie sei traurig, sagte seine Mutter, aber auch erleichtert, daß sie ihm ein anständiges Begräbnis geben könne.

Die Hoffnung der anderen acht Familien, die Leichen ihrer Angehörigen in Empfang nehmen zu können, sind bisher enttäuscht worden. Die IRA hat sechs Stellen benannt, alle in der Republik Irland, doch die Grabungen sind bisher ergebnislos. „Wir hoffen stets auf die nächste Schaufelladung“, sagt Seamus McKendry. „Für uns ist es die Hölle.“ Um sich abzulenken, schiebt er seine kleine Enkelin im grün-gelb karierten Kinderwagen den Strand entlang.

„Wir sind alle nervlich am Ende“, sagt seine Frau Helen. „Aber so lange sie graben, habe ich Hoffnung. Wenigstens ist das hier eine so viel schönere Begräbnisstelle als unter irgendeinem Haus in Belfast, wo wir sie bisher vermutet hatten.“ Sollte die Polizei die Suche einstellen, fügt Seamus McKendry hinzu, dann werde die ganze Familie mit Schaufeln weitersuchen. Superintendent Michael Staunton, der die Grabungen leitet, verspricht aber, es gäbe keine Pläne, die Aktion vorzeitig abzubrechen. Seine Leute haben die Gegend mit Metalldetektoren abgesucht, in der Hoffnung, daß Jean McConville einen Ring oder eine Halskette trug. Man richtet sich auf eine lange Suche ein, ein Lastwagen hat sechs blaue Toilettenhäuschen angeliefert. Der Parkplatz, sagt Staunton, sei erst vor zehn Jahren gebaut worden, dabei könnte Erde bewegt worden sein.

Am Nachmittag kommt eine weißhaarige Frau in Trauerkleidung und überreicht der McConville-Familie einen Blumenstrauß, den Seamus McKendry am Absperrzaun befestigt. Maureen Kearney ist mit den McConvilles seit langem befreundet, sie kennen sich seit den Zeiten in den Divis Flats, als Jean McConville noch lebte. Im vergangenen Juni ist Maureen Kearneys 33jähriger Sohn Andrew von der IRA angeschossen worden. Die Täter blokkierten den Fahrstuhl und die Treppen im Hochhaus, so daß die Sanitäter nicht rechtzeitig zu Andrew gelangten, er verblutete.

„Ich konnte meinen Sohn wenigstens beerdigen“, sagt sie, „aber diese Familie wartet seit 27 Jahren und muß nun auch noch das hier durchmachen. Ich bin sicher, daß ich für die gesamte nationalistische Bevölkerung spreche, wenn ich sage: Schande über die Leute, die so etwas zulassen.“

Die „Verschwundenen“ sind eins der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der IRA. Den Verwandten wurden nicht nur die Leichen bis heute vorenthalten, sie wurden von der IRA auch belogen. Jean McConville sei mit einem britischen Soldaten durchgebrannt und habe ihre zehn Kinder im Stich gelassen, erklärte die IRA. Margaret McKinney wurde gesagt, ihr Sohn Brian, der 1978 von der IRA erschossen worden war, sei nach England ausgewandert. Und im Fall Columba McVeighs erklärte die IRA, die ihn 1975 getötet hatte, er sei von der britischen Armee ermordet worden.

Dabei galt es im nordirischen Konflikt als ungeschriebenes Gesetz, daß Beerdigungen unantastbar sind. Wenn diese Regel von Polizei oder Armee gebrochen wurde, gab es massive Proteste von der IRA und ihrem politischen Flügel, Sinn Fein, zum Beispiel im Fall des IRA-Mannes Frank Stagg. Er war Mitte der siebziger Jahre in einem englischen Gefängnis im Hungerstreik gestorben. Als seine Leiche nach Dublin überführt wurde, kidnappte die Polizei den Sarg, fuhr ihn tagelang im Land umher und begrub ihn schließlich unter einer Tonne Zement in der entlegenen Grafschaft Mayo – gegen den Wunsch von Freunden und Verwandten, nur um ein militärisches IRA-Begräbnis zu verhindern. Die Proteste gingen damals weit über Irland hinaus.

Warum aber hat die IRA die Leichen verschwinden lassen? Zahllose Polizeiinformanten sind in den vergangenen 30 Jahren erschossen und auf der Straße liegengelassen worden, als Warnung für andere Spitzel – ohne Erklärung. Die Bekanntgabe der geheimen Gräber ist in der IRA offenbar umstritten: Die Süd-Armagh-Brigade hat sich geweigert, die Stellen bekanntzugeben, wo sie vier „Verschwundene“ vergraben hat. Einer davon ist der britische Geheimagent Robert Nairac. Der ehemalige IRA-Mann und Polizeiagent Eamonn Collins, der voriges Jahr von der IRA getötet worden ist, beschrieb in seinem Buch „Blinder Haß“, daß Nairac 1977 in einer Fleischfabrik bei Dundalk durch den Wolf gedreht und als Tierfutter verarbeitet wurde.

Die IRA-Führung in Belfast sieht die Freigabe der Leichen als Zugeständnis im Friedensprozeß, der Zeitpunkt kurz vor den Europa- und Lokalwahlen sollte Sinn Fein Stimmen einbringen. Je länger die Suche jedoch dauert, desto mehr wird die Sache zum Eigentor. Mary Robinson, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und frühere irische Präsidentin, sagte: „Ich hoffe, daß es möglich ist, genaue Angaben zu machen, und ich fordere die IRA und andere auf, die dazu beitragen können, die Sache zu beschleunigen, das umgehend zu tun.“

Die IRA beteuert jedoch, daß sie alle Informationen weitergegeben habe. Aufgrund der langen Zeit könne man nichts genaueres sagen, die IRA-Führung habe seitdem mehrfach gewechselt, viele IRA-Mitglieder sind tot. Sinn-Fein-Präsident Gerry Adams führte die bisher erfolglose Suche auf geologische Veränderungen zurück, und wahrscheinlich hat er Recht. „Ich denke, die ganze Nation schaut zu“, fügte er hinzu und „ich hoffe, daß die sterblichen Überreste so schnell wie möglich gefunden werden.“

Seamus McKendry glaubt nicht, daß die IRA genügend Informationen weitergegeben habe. „Wenn ich eine Mutter von zehn Kindern vergrabe“, sagt er, „dann vergesse ich die Stelle niemals. Selbst Pfarrer Ian Paisley bezeichnet die IRA als effizienteste Guerilla-Armee der Welt. Von dieser Effizienz möchte ich hier gerne etwas sehen.“

Abends um kurz nach acht stoppt der Bagger am Templetown-Strand. Polizisten laufen mit Plastiktüten in die Grube und sammeln Knochen ein. Jean McConvilles Tochter Maggie bricht zusammen, doch es ist falscher Alarm: Es sind die Knochen eines Tieres. Die Suche geht weiter.