Die „chinesische Lösung“ war kontraproduktiv

■ Stasi-Akten zeigen Ermutigung der DDR-Opposition durch die Ereignisse in China 1989

Berlin (taz) – Parallel zur Demokratiebewegung in China und ihrer Niederschlagung nahmen 1989 in der DDR nach den gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai Unzufriedenheit, Proteste und Flucht zu. Die Ereignisse in China mobilisierten ostdeutsche Oppositionelle. Und das, obwohl die SED-Führung den Militäreinsatz gegen die Pekinger Studenten nutzte, um den DDR-Bürgern mit dem „Modell Himmlischer Frieden“ zu drohen. „Die Frage: Kommt es zu einer 'chinesischen Lösung‘ ? war im Herbst 1989 auf der Tagesordnung“, erinnert sich Erhart Neubert. Der DDR-Bürgerrechtler und heutige Mitarbeiter der Gauck-Behörde stellte am Mittwoch abend in Berlin Stasi-Aken vor, die sich mit den Auswirkungen der chinesischen Ereignisse auf die DDR befassen.

Das Tiananmen-Massaker und die Solidarisierung der SED-Führung mit dem Pekinger Regime lösten in der DDR Empörung aus. Mit kleinen Demonstrationen, per Brief oder Telefon protestierten DDR-Bürger bei der chinesischen Botschaft in Berlin-Pankow, schrieben Leserbriefe und beteten in Gottesdiensten. „Im Zusammenhang mit der verstärkten Verleumdungskampagne westlicher Massenmedien nach der Niederschlagung des konterrevolutionären Aufruhrs in Peking kam es seit dem 4. Juni 1989 zu einem Ansteigen provokatorisch-demonstrativer Handlungen gegen die Politik der Staats- und Parteiführung sowie gegen Einrichtungen der VR China in der DDR“, heißt es in der Wochenübersicht Nr. 24/89 (Aktenzeichen BStU 000050 ZAIG 4595). Die Akte notiert vom 4. bis 10. Juni die Abweisung von 27 Personen aus dem „Sicherheitsbereich“ der von der Stasi überwachten und abgehörten Botschaft, 49 Briefe „mit z.T. provokatorischen Protestbekundungen“ und 36 „telefonische Verbindungsaufnahmen provokatorischen Inhalts“. Berichtet wird von einer „Reihe feindlich-negativer Handlungen und Protestbekundungen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Peking“ in Berlin, Potsdam, Rostock, Gera, Leipzig und Halle.

Die DDR-Führung, die im Sommer 1989 Egon Krenz, Hans Modrow und Günter Schabowski zu Solidaritätsbekundungen nach Peking schickte, erreichte das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigte. „Die SED-Führung provozierte den politischen Widerspruch, der über den engen Kreis der Oppositionellen hinausging“, so Neubert. Bis in den Herbst habe die China-Politik und die sie begleitende Propaganda die SED-Führung weiter delegitimiert.

Doch auch einige SED-Mitglieder zeigten Zivilcourage: „Wir fordern: Schluß mit dem Massenmorden in China! Mehr Menschenrechte und Freiheiten für das Volk und nicht für eine herrschende Minderheit!“ heißt es in einer Postkarte an den DDR-Staatsrat, die mit „Mitglieder der Brigade Roter Oktober“ des Berliner VEB Narva unterzeichnet ist. Doch laut Neubert unterstützten viele SED-Gruppen und Massenorganisationen Peking mit einer erschreckenden Kälte gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in China.

Der tschechische Präsident und frühere Bürgerrechtler Václav Havel sagte gestern in Prag, der Tod der Studenten am 4. Juni in China sei nicht sinnlos gewesen. Die Tragödie habe der Demokratie in Osteuropa geholfen. Im polnischen Wroclaw soll heute ein Denkmal für die Toten in Peking eingeweiht werden. 1989 hatten Studenten ein ähnliches Monument errichtet, das von den Behörden entfernt wurde. „Dieses Denkmal hat eine doppelte Bedeutung für uns. Am 4. Juni 1989 haben wir Polen das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg frei gewählt. Gleichzeitig gab es in China eine Tragödie“, so Initiator Krzystof Jakubczak. Sven Hansen