Die Stimmung in Peking kann wieder kippen

Am zehnten Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung ist der große Platz in Pekings Mitte nur eine Baustelle. Doch um die Mitte Chinas wird weiter gekämpft  ■   Aus Peking Georg Blume

In der Siegeseuphorie vor fünfzig Jahren stellte sich Chinas KP ihre Falle selbst: Mit dem riesigen Areal, das die Kommunisten nach der Revolution von 1949 vor dem Tor des Himmlischen Friedens in der Mitte Pekings freilegten, schufen sie einen Platz, der zu Demonstrationen gegen die Mächtigen geradezu auffordert. Mao nahm die Einladung als erster an, als er sich vor die Roten Garden der Kulturrevolution stellte, die 1966 zur „Bombardierung des Hauptquartiers“ aufmarschierten. Zehn Jahre später war es Deng Xiaoping, der die Demonstrationen gegen die Viererbande auf dem Platz zum populären Mandat für seine Reformpolitik umfunktionierte. 1989 aber kam es nach dem friedlichen Aufstand der Studenten zum unversöhnlichen Zusammenstoß zwischen Volk und Partei.

Seit vor zehn Jahren die Panzer der Volksbefreiungsarmee den Platz des Himmlischen Friedens überrollten und Soldaten in der Nacht zum 4. Juni Hunderte, wenn nicht Tausende wehrloser Bürger niederschossen, dient der Tiananmen-Platz nun beiden: den Freunden und Feinden der Republik.

Am 4. Juni ist er Symbol des Protests. Nicht ausgeschlossen, daß heute ein paar Furchtlose die Sicherheitskräfte provozieren, nur indem sie einen Blumenstrauß für die Opfer von 1989 vor dem Tor des Himmlischen Friedens niederlegen. Wer trotz der zahlreichen Verhaftungen von Dissidenten in diesem Jahr immer noch wagt, öffenlich gegen die Partei aufzutreten, tut das jetzt: mit Denkschriften, symbolischen Aktionen und im Einzelfall sogar einer Gerichtsklage gegen Parlamentspräsident Li Peng, dem „Schlächter vom Tiananmen-Platz“.

Manche Quellen sprechen von einigen tausend Aktivisten, die die Demokratiebewegung in China heute noch zähle. Vielleicht sind es auch nur ein paar hundert, doch genug, um die Partei zum Abdruck langatmiger Leitartikel und der Vorsichtsmaßnahme zu bewegen, den Tiananmen-Platz in diesen Wochen abzusperren. Nicht einmal die Kinder dürfen dort mehr ihre bunten Drachen steigen lassen.

Am 1. Oktober soll dann alles anders sein. Dann werden über Peking die roten Fahnen wehen, und der Tiananmen wird frisch geschmückt die Paraden zum 50. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik über sich ergehen lassen. Allerdings waren es selten die offiziellen Feierstunden, in denen sich Weltgeschichte auf dem Platz abspielte. Seine Bedrohlichkeit rührt aus dem Wissen, daß die Stimmung in der Hauptstadt jederzeit kippen kann. Man stelle sich nur vor, die Fraktion um den Hardliner Li Peng würde den populären Reformpremier Zhu Rongji aus dem Amt befördern. Der Tiananmen könnte im Nu wieder voll sein.

Peking ist seit dem Ende des Kaiserreichs 1911 eine genauso unsichere politische Bühne wie Paris nach der Revolution von 1789. Wie im zentralistischen Frankreich spielt sich in China alle Politik in der Hauptstadt ab. Shanghai mag reicher sein und Chongqing im Südwesten größer. Doch keine andere Stadt zieht so sehr die geistige Elite des Landes an. In Peking stehen seit Jahrhunderten die Schulen des Mandarinats, jener hochgebildeten Zentralbürokratie, die in Wirklichkeit das Land regiert. Noch heute ist die Peking-Universität, in der alle Revolten dieses Jahrhunderts angezettelt wurden, die wichtigste unter ihnen.

Das westliche Modewort von der „Depolitisierung“ kennt hier keiner. Der Stichtag für die Pekinger Stundenten aber war in diesem Jahr nicht der 4. Juni, sondern der 7. Mai – der Tag, an dem die Nato die chinesische Botschaft in Belgrad bombardierte. Alte Revolutionäre hätten ihre Freude am Gespräch mit dieser Jugend gehabt, die allem sofort auf den Grund gehen wollte: dem aus ihrer Sicht heuchlerischen Menschenrechtsanspruch des Westens genauso wie der Verlogenheit der eigenen Parteipropaganda.

Schon die Demokratiebewegung von 1989 war nicht frei von sublimer Aggressivität. Im Vorfeld der Revolte gab es antijapanische Ausschreitungen unter den Studenten, und die Führer der Bewegung spielten sich im Laufe der Revolte zu kleinen Maos auf. Bis heute glaubt die Pekinger Elitejugend an ihre politische Avantgarde-Funktion. Das Ausmaß der studentischen Entrüstung nach der Botschaftsbombardierung durfte deshalb nicht überraschen. Nun stellt sich die Frage, ob der Protest, der noch vor zehn Jahren in einer Solidarisierung breiter Massen mit westlichen Demokratievorstellungen endete, sich heute neu gegen den Westen formiert. Zwar hat sich das republikanische Werterepertoire Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im 20. Jahrhundert so in den Köpfen der Pekinger Intelligenz gefestigt, daß niemand mehr an die Grundsatztreue der KPCh glaubt. Doch daraus ergibt sich noch lange keine Übereinstimmung mit den aktuellen Zielen westlicher Politik.

Vor allem das Bündnis zwischen Japan und den USA ist der Elite suspekt. Hätte nicht die Nato, sondern das Pazifikbündnis eine chinesische Botschaft bombardiert, wäre Peking wild geworden. Denn im Gegensatz zum Respekt, den Amerika und Europa in aller Regel genießen, schlummert im unbewältigten Verhältnis zum Gegner des Zweiten Weltkrieges der wirklich unkontrollierbare Teil des chinesischen Nationalismus.

In Zukunft gilt es, beide Tage im Auge zu behalten: den 4. Juni, weil der Aufstand in China jederzeit denkbar bleibt und seine Tradition die Regierung zur Rücksicht gegenüber dem Volk zwingt; und den 7. Mai als Anzeichen dafür, daß völlig offen ist, wen die Massen das nächste Mal an die Macht spülen, ob einen Danton, einen Napoleon oder nur eine weitere Auflage des derzeitigen Juste-milieu-Regimes.