Vom Katheder zum Gespräch

Das Bildungswesen in Deutschland ist immer noch bürokratisch und autoritär – und allenthalben herrscht Bitterkeit über die Dauerkrise des immer wieder reformierten Bildungssystems. Denn die manifestiert sich nahezu überall: im Nebeneinander zweier unvereinbarer Schultypen, im Run auf Gymnasien und Hochschulen, im Kulturföderalismus und im Reformstau an den Hochschulen. Teil XX der Reihe 50 Jahre neues Deutschland  ■ von Christian Füller

Speyer zum Beispiel. Im pfälzischen Städtchen versteckt sich eine der Perlen der deutschen Bildungslandschaft: Die Hochschule für Verwaltungswissenschaften ist, was Bildungseinrichtungen hierzulande sonst nicht sind: klein, aber fein. 500 ausgewählte Postgraduierte sind hier auf dem Sprung in Führungspositionen von Staat und Verwaltung.

Während in den Massenuniversitäten Münchens, Kölns oder Berlins nicht selten tausend Studis einem einsamen Dozenten gegenübersitzen, kümmert sich in Speyer ein Professor um 25 der Auserwählten. Einer „wahrhaft akademischen oder sophistischen Kultur des Gesprächs“, für Walter Benjamin die Keimzelle von Bildung, steht also nichts im Wege. Könnte man meinen. Doch in den Seminaren regiert der Kathedervortrag. Worüber doziert wird, sollen die Studiosi möglichst widerspruchsfrei schlucken. Ehe die Eleven ihr Examen ablegen dürfen, paukt man ihnen in einem Pflichtseminar ein, wie wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen seien – als säßen hier nicht Endzwanziger mit Diplomen der besten Fachbereiche der Republik.

Die Kaderschmiede im Pfälzischen ist wie eine Karikatur auf den Zustand der 320 Hochschulen und rund 52.00 Schulen im Land: Das Schul- und Hochschulwesen ist finanziell bestens ausgestattet; jährlich fließen 160 Milliarden Mark aus den öffentlichen Kassen in Schulen und Hochschulen. Und trotzdem werden Schulen und Hochschulen, Lehrer und Kultusminister den hohen Ansprüchen nicht gerecht, die das Land der Bildungsbürger stellt.

Als Exempel der Umvollkommenheit gilt der Grundpfeiler deutscher Bildung: die dreigliedrige Schule, die einen Wechsel zwischen Haupt-, Real- und Oberschule nicht vorsieht. Humboldt hatte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit gebrochen, Schüler in verschiedene Schultypen stecken zu wollen. Sie sollten nicht mehr in vertikal getrennten Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen auf ihre vermeintliche Bestimmung vorbereitet werden. Humboldt verlangte nach einer Einheitsschule für die ganze Nation.

Dieses Konzept wird seitdem überall kopiert – aber im Land des Erfinders gibt es die Einheitsschule nicht. Hier haben sich Hauptschule, Realschule und Gymnasium nach 1949 erst in ihren Reinformen herausgebildet. Ideologisch begründet nicht mehr mit Bestimmung, sondern mit Begabung. Amerikanischen Freunden ist dieses Relikt stets das böse Späßchen wert: Daß man sich in Deutschland bereits mit zehn Jahren zum Studium entschließen muß – sonst ist der Zug Richtung Gymnasium, Abitur und Hochschulstudium abgefahren.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Die Alliierten wünschten sich – nach Hitlers „Ordensburgen einer gewalttätigen, herrischen, unerschrockenen, grausamen Jugend“ – eine ideale Schule: chancengleiche Bildung, unentgeltlichen Unterricht, ein integrierendes Bildungswesen, staatsbürgerliche Erziehung. Auch die Deutschen sprachen, wie 1946 Hessens Ministerpräsident Gailer, von der Notwendigkeit „einer geistig-seelischen Umformung unseres Volkes“.

Doch die reeducation mißlang. Die junge Bundesrepublik betrieb auch in den Klassenzimmern Restauration. Die „volkstümliche Bildung“, sprich: die Volksschule wurde aufgemöbelt. Bessere Landschulen brachte das und eine ausgebaute Volksschuloberstufe, die 1964 über die Bundesländer hinweg vereinheitlicht wurde – fertig war die Hauptschule. Parallel entstand, für „gutbegabte Kinder mit praktischer Veranlagung“, die Realschule. Damit überwand man aber das Oben und Unten beim Lernen nicht etwa, sondern etablierte es erst richtig.

Dem Gymnasium ließ man indessen die liebevollste und intensivste Schulreform angedeihen – die Klassenverbände wurden 1976 zugunsten eines Kurssystems aufgelöst. Die Penne mauserte sich zur Lieblingssschule der Nation: Beinahe jedes Kind will oder soll auf jene Schule, die 1950 nur vier Prozent besuchen durften. Heute geht etwa ein Drittel der Teens aufs „Gymi“ – und führt damit, zum Leidwesen der Konservativen, dessen elitären Charakter ad absurdum.

Der Gesamtschule dagegen war es nie vergönnt, wie in den siebziger Jahren geplant, die Bildungsbarrieren zu durchbrechen. Der bildungspolitische Aufbruch unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt für mehr Demokratie, Bildung und Chancengleichheit, blieb auf halbem Wege stekken. Zwar stimmte die Kultusministerkonferenz den Schulversuchen zunächst zu; die ersten Gesamtschulen entstanden – vor allem in SPD-regierten Ländern wie Nordrhein-Westfalen oder Hamburg. Dann aber polarisierten konservativ regierte Länder und Verbände die Debatte derart, daß es zu einem bitteren Streit um die Gesamtschule kam. Auch der Kompromiß von 1982, in dem alle Bundesländer bestimmte Gesamtschulabschlüsse anerkannten, konnte die Auseinandersetzung nicht schlichten. So existieren seither zwei an sich unverträgliche Schulsysteme nebeneinander: die bildungsintegrierende Gesamtschule und die Segregation des dominierenden dreigliedrigen Schulwesens. Was von Brandts bildungspolitischem Aufbruch blieb, war Expansion. Der Zugang zu Bildung explodierte förmlich. Zwischen 1970 und 1980 verdoppelten sich die Studentenzahlen auf eine Million. Bildungshistoriker ordnen das kühl als einen Prozeß ein, der die Entwicklung in anderen Industrienationen nur nachhole.

Wie zwiespältig die Bildungsexpansion ausfallen kann, zeigt sich bei den Hochschulen. Der Zuwachs der Studentenzahlen in den Siebzigern war ökonomisch wie politisch gewollt. Die Nation hatte erkannt, daß eine Forsetzung des Wirtschaftswunders ohne den Nachschub an hochqualifizierten Arbeitskräften unmöglich sei. Finanziell war der entsprechende Ausbau indes nicht zu verkraften. Bereits 1977 konnte man die für die Bildungsexpansion nötigen Pädagogen nicht mehr bezahlen. Man fand eine Scheinlösung – den „Öffnungsbeschluß“: Der „Studentenberg“ sollte ohne Einstellung weiteren Personals „untertunnelt“ werden, bis mit den geburtenschwachen Jahrgängen der Run auf die Universitäten von allein aufhören würde.

Allein, die Nachfrage nach höherer Bildung ließ nicht nach. Im Gegenteil, ein anderes Problem trat hinzu: Die Hochschulen selbst waren von ihrer Studienstruktur her für die Bildungsexplosion auf heute 1,8 Millionen Studierende nicht gerüstet. Der Großteil der Studenten erwartet eine auf konkrete Berufsfertigkeiten ausgerichtete akademische Ausbildung. Das Studienprogramm aber zielt auf das Heranziehen wissenschaftlichen Nachwuchses. Das überfordert offenbar beide Seiten: Die Studenten fühlen sich, mit Blick auf den umkämpften Arbeitsmarkt, im Stich gelassen; die Hochschulen beginnen erst jetzt, in den Neunzigern, neuartige Abschlüsse für Kurzstudien einzuführen, wie den angloamerikanischen „Bachelor“. Ansonsten verharrt die Hochschule in Reformstarre: Zurück zur kleinen Zahl – das darf sie von Verfassungs wegen nicht. Innere Reformen bringt sie indes nicht zustande.

Der eigentümliche Zustand, zu dem sich das deutsche Schul- und Hochschulwesen hinentwickelt hat, ist höchst prekär: Mächtige Kultusbürokraten verwalten die halbherzige Bildungsexpansion und –reform. Für alle Augen sichtbar wurde dies erst, als die OECD die jüngste Bildungskatastrophe dingfest machte – und zwar am Geld: Deutschland ist unter den Industrienationen weit zurückgefallen. Im Vergleich der direkten öffentlichen Ausgaben für Bildung lag das Land der Bildungsbürger 1995 nur noch auf dem 18. Rang. Auf einen Schlag war Bildung auch beim Bundespräsidenten wieder ein „Megathema“.

Neu ist an der Situation zweierlei: Zum einen sind die öffentlichen Haushalte, aus denen Bildung bezahlt wird, so überlastet, daß das Zücken des Scheckbuchs schlicht nicht möglich ist. Zum anderen läßt sich ja auch keineswegs behaupten, in der Bildungsapparatur stecke wenig Geld. Man muß sich etwa vor Augen halten, daß allein die Bildungsministerin von Nordrhein-Westfalen ein Budget von 29 Milliarden Mark verwaltet. Gabriele Behler verfügt über ein Drittel des Gesamtetats ihres Landes und über 60 Prozent der öffentlichen Bediensteten.

Heute, so meinen manche, stünde Deutschland bildungspolitisch am Scheideweg: sich zu Öffnung, Emanzipation und Demokratisierung der Bildungseinrichtungen zu bekennen – oder sie zurückzunehmen. Die beiden wichtigsten Motoren von Bildungsreformen der letzten Jahre, die Bertelsmann-Stiftung und die „Bildungsgutachter“ von GEW und Hanns-Böckler-Stiftung, halten das für eine Scheinalternative. Die liberale Stiftung des milliardenschweren global players Bertelsmann und die aus dem linken Spektrum stammenden Gutachter sind sich verdächtig einig. Wer Bildung in Deutschland renovieren will, der muß Schulen und Hochschulen mehr Unabhängigkeit geben – sie also konsequent entstaatlichen, der muß Eltern, Betrieben, Kommunen mehr Einfluß geben und anstreben, was schon der Kern der Humboldtschen Reformziele war: den Lernenden vom Untertan zum Subjekt seines Bildungsprozesses werden zu lassen.

Die Kaderschmiede in Speyer hat unterdessen einen Reformschritt getan. Sie hat ihren Namen um den Zusatz „Deutsch“ erweitert: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften. Ob das genügt?

Christian Füller, 35, ist in der taz-Politikredaktion und für Bildung und Budget zuständig