Suhartos düsteres Erbe

Seitdem Präsident B. J. Habibie die Trennung Jakartas von der rebellischen Provinz Ost-Timor in Aussicht stellte, werden auch in Aceh, auf der Insel Sumatra, die Rufe nach Unabhängigkeit lauter. Kurz vor den Parlamentswahlen hält das Militär die Provinz mit eiserner Faust unter Kontrolle. Kämpfer der Unabhängigkeitsbewegung präsentieren sich erstmals der Presse. Eine Reportage  ■ von Jutta Lietsch

Für einen von Militärs ermordeten Ehemann verspricht die indonesische Regierung eine Million Rupiah (125 US-Dollar) Entschädigung. Ein abgefackeltes Haus ist offenbar mehr wert als ein Menschenleben: sieben Millionen Rupiah (875 Dollar). Nach dieser bizarren Rechnung hat die 35jährige Rafasah Harun wohl Anspruch auf 8 Mio Rupiah. Denn seitdem die Armee 1990 in ihr Dorf kam und ihren Mann Amir Husein Ahmad gemeinsam mit fünf anderen Bauern zum Verhör abholte, ist er spurlos verschwunden. „Sie sagten, er gehöre zur Unabhängigkeitsbewegung, aber er wußte doch gar nichts von ihr“, erinnert sich Rafasah an jenen schrecklichen Tag.

Die Soldaten kehrten noch zweimal zurück: Zuerst brachten sie Reis und Fisch für die fünf kleinen Kinder. Dann steckten sie das Haus in Brand, nachdem sie alles, was ihnen gefiel, geraubt hatten. „Ich will von der Regierung kein Geld“, sagt die junge Frau aus dem 3.500-Seelen-Dorf Seumirah im Norden von Aceh und zieht sich ihr buntes Batiktuch tiefer über den Kopf. „Ich will wissen, was mit meinem Mann passiert ist.“ Sie wartet bis heute vergeblich.

Kein Jahr ist es her, als die Welt erstmals vom Ausmaß der Tragödie in Aceh erfuhr, in der sich das Schicksal Rafasahs tausendfach wiederholte. Heute droht die düstere Erbschaft des indonesischen Suharto-Regimes die Region in einen blutigen Bürgerkrieg zu treiben. Denn in der fruchtbaren und an Bodenschätzen reichen Region am Nordzipfel der Insel Sumatra wächst die Wut auf die Regierung im fernen Jakarta.

In Nacht- und Nebelaktionen pinseln Studenten und andere Oppositionelle in meterhohen Lettern „Referendum“ auf die Straßen. „Merdeka!“ – Freiheit! – fordern Parolen an Hauswänden. In Dörfern und Städten, an Brückenpfeilern und Straßenrändern taucht immer häufiger auch ein Halbmond mit Stern auf rotem Hintergrund mit schwarzweißen Streifen auf – Wahrzeichen der geheimnisvollen „Aceh Merdeka“-Bewegung, deren Führer Hasan de Tiro seit 1979 im schwedischen Exil lebt.

Nachdem seine Guerilla Ende der achtziger Jahre immer aktiver wurde, hatte Jakarta die Region zu einer sogenannte „Daerah Operasi Militer“ (DOM) erklärt. Damit wurde es militärisches Einsatzgebiet, in dem die Armee brutal versuchte, die Aceh Merdeka zu vernichten. Im vergangenen August hob Habibie das Militärrecht wieder auf. Fast 2.000 Tote wurden seitdem in Massengräbern gefunden. Die Soldaten hatten in jenen Jahren über 3.000 Menschen schwer gefoltert und systematisch Frauen vergewaltigt. Tausende Opfer sind, wie Rafasahs Ehemann, noch immer verschollen.

Grenzenlos schien die Fantasie der Militärs, sich erniedrigende Schikanen einfallen zu lassen: Um die Bewohner des Dorfes Seumirah zu zwingen, die Guerilla zu verraten, ließen die Soldaten eines Tages alle Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge von sieben Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags auf Händen und Füßen durch den Ort kriechen.

Suraiya Kamaruzzaman von der lokalen Hilfsorganisation „Flower Aceh“, die die Verbrechen der DOM-Periode dokumentiert, erinnert sich noch sehr deutlich an den August des letzten Jahres. Da trat Armeechef Wiranto vor die Kameras und tat etwas nie Dagewesenes: Er bat die Menschen in Aceh offiziell um Verzeihung. „Damals hofften wir, daß es besser wird. Wir haben der Regierung sogar geglaubt, als sie versprach, die Soldaten abzuziehen und die Mörder vor Gericht zu stellen“, sagt die 30jährige Chemiedozentin. Doch ihre Hoffnung wurde grausam enttäuscht: „Kaum war das Blut der DOM-Zeit getrocknet, haben sie schon frisches vergossen.“

Im Krankenhaus des Küstenortes Lhokseumawe fächelt eine alte Frau ihrem Enkel Kühlung zu. Ein Pflaster bedeckt die Wunde am Bauch des 20jährigen, dem Ärzte einen künstlichen Darmausgang gelegt haben. Sudirman Razali überlebte die „Tragödie des 3. Mai“, wie die Bewohner von Aceh das jüngste und schlimmste Massaker nennen: An jenem Tag starben mindestens 41 Menschen, als Soldaten westlich der Stadt plötzlich das Feuer auf Tausende Demonstranten eröffneten. Die wirkliche Zahl der Opfer könnte weit höher liegen: „Viele Familien haben ihre Toten heimlich beerdigt, weil sie Angst vor neuen Repressionen haben“, berichtet eine Helferin in der Klinik. „Als wir die ersten Schüsse hörten, haben wir uns sofort hingeworfen“, sagt Sudirman. Es half nichts: Die Militiärs zielten auch auf die Männer, Frauen und Kinder, die schon am Boden lagen. Wie Dutzende andere wurde der junge Mann im Rücken getroffen – eine Kugel zerfetzte seinen Darm.

Im weitläufigen Armeehauptquartier des Militärs in Lhoksameuwe hat der Sicherheitschef und Kommandant der Region, Oberst Johnny Wahab, eine ganz andere Erklärung für das Blutbad. Nicht seine Soldaten, sondern „verkleidete Provokateure der Aufwieglerbande Hasan de Tiro“ hätten auf die Menge gezielt, sagt er. Angeblich wollten sie den Haß der Bevölkerung gegen die Armee schüren und die indonesischen Parlamentswahlen am 7. Juni stören.

Tatsächlich hat die „Aufwieglerbande HT“, wie die Regierung die Aceh Merdeka nennt, inzwischen zum Boykott der Abstimmung aufgerufen: Indonesien sei ein fremder Staat, mit dem die Region nichts zu tun haben will, sagen ihre Führer. Seitdem weigern sich die Bewohner vieler Dörfer, sich als Wähler registrieren zu lassen. Auf der anderen Seite wagen es viele der 48 indonesischen Parteien gar nicht, in den besonders unruhigen Gebieten Wahlkampf zu machen. Die Regierung hat für solche Fälle ein erprobtes Rezept: noch mehr Militärs. So kommandierte Armeechef Wiranto kurz nach dem Massaker vorsichtshalber eine zusätzliche Einheit von 500 Soldaten nach Aceh. Sie sollen in den Dörfern und Städten „von Tür zu Tür gehen“, wie ein hoher Offizier sagt, um die „Wahlbeteiligung“ zu erhöhen. Das klingt in Aceh wie die pure Drohung: „Viele sind seitdem richtig krank vor Angst“, sagt Suraiya. Die Erinnerung an den Horror ist noch zu frisch. Auf dem Gelände einer großen Moschee im Distrikt Pidie kampieren seit zwei Wochen die Bewohner aus drei Orten der Umgebung. Sie wollen erst wieder heimkehren, wenn das Militär garantiert, ihre Dörfer nicht mehr aufzusuchen.

Die Guerilla zählt nach den Worten des eisern lächelnden Oberst Wahab zwar nur fünfzig bewaffnete Kämpfer, aber sie bereitet trotzdem viel Ärger: So griff sie zum Beispiel vor wenigen Tagen einen Stützpunkt mit Granatwerfern an. „Glücklicherweise haben die fünf Geschosse niemanden verletzt“. Tiefer besorgt die Armee eine mysteriöse Mordserie. Seit dem letzten Sommer haben Unbekannte über achtzig Militärs und angebliche Informanten am hellichten Tag „hingerichtet“. Für Oberst Wahab steht außer Frage, wer dahintersteckt: die „Aufwieglerbande HT“. Im übrigen besäße er, sagt der Oberst, ein Video, das ein für alle Mal beweise, daß die Guerilla auch für das Massaker am 3. Mai verantwortlich sei, erklärt er. Der Film, den wir anschließend im Hinterzimmer des militärischen Geheimdienstes sehen dürfen, zeigt jedoch deutlich Soldaten, die direkt in die Menge schießen. Als die Kamera schließlich über die blutigen und schreienden Menschen am Boden schwenkt, geht der Mann vom Geheimdienst ganz dicht an den Bildschirm und deutet auf das leere Dach eines Gebäudes: „Von da“, sagt er, „haben die Provokateure geschossen.“

Alles Lüge!“ entgegnet ein paar Kilometer weiter Ismail Sahputra, der 34jährige Sprecher von Aceh Merdeka: „Wir schießen nicht auf Acehnesen.“ Die Armee „will sich wie üblich reinwaschen.“ Im übrigen gehen auch die geheimnisvollen Morde auf das Konto des Militärs, versucht er seine ungläubigen Interviewer zu überzeugen. Es wolle unliebsame Zeugen seiner dunklen Vergangenheit beseitigen. Diese Erklärung finden viele Acehnesen völlig überzeugend.

Ismail Sahputra steht ganz oben auf der Fahndungsliste des Militärs. Wir begegnen ihm an einem geheimen Treffpunkt, einem offenen Holzhaus. An der Wand hängen Portraits des exilierten Hasan de Tiro, eines Abkömmlings der Sultane von Aceh, der nach einem Politikstudium in den USA 1976 in seine Heimat zurückgekehrt war und die Unabhängigkeitsbewegung gründete. Dutzende Kinder spielen um das Haus herum, Familien plaudern am Gartenzaun. „Sie alle beschützen mich“, sagt Ismail Sahputra, ein Mann mit flotten Jeans und Handy. Seine Guerilla, beteuert er, zähle „vielleicht über 1.000 Kämpfer“ und viele Zivilisten. Aceh Merdeka wolle vor allem durch politische Mittel ihr Ziel erreichen: einen eigenen Staat, wie er schon vor der holländischen Kolonialherrschaft bis 1873 bestand. Es soll ein Staat „nur für die muslimischen Acehnesen“ sein, ohne die verhaßten Zuwanderer von anderen indonesischen Inseln, „aber mit einem toleranten demokratischen System wie Amerika“.

Ein paar Tage später finden sich erstmals auch militärische Vertreter der Rebellen zu einem Treffen mit ausländischen Journalisten in der Region Pidie, mehr als hundert Kilometer westlich, bereit. Zwanzig bewaffnete Männer in Jeans, Bauernhosen und Camouflage-Khaki – die geheimnisvollen „Aufwiegler“, gegen die Jakarta tausende Soldaten nach Aceh geschickt hat. Sie tragen alte Maschinenpistolen, AK 47 und M 16-Gewehre, einer schwingt einen traditionellen Säbel. In einem strohbedeckten Unterstand stellt sich der Chef der Guerillatruppe vor, Tengku Abdullah Sjafei'n, ein Mann in mittleren Jahren, der mehr wie ein Lehrer als ein Guerillero aussieht. Über die Truppe will er wenig sagen, nur soviel: Viele seiner Leute seien in Libyen, ausgebildet worden. Bei allen Zusammenstößen mit der indonesischen Armee hätten sie in den letzten Jahren „gesiegt“, behauptet er. Über das zukünftige Aceh ist er allerdings anderer Meinung als sein weltgewandterer Rebellenkollege aus Lhokseumawe. Er träumt von „einem Königreich“ wie vor der Zeit der Holländer. Wer wird dann Sultan? Natürlich Hasan de Tiro.

In dem Dorf Seumirah, drei Autostunden entfernt, ist es Bäuerin Rafasah völlig egal, ob Aceh ein Sultanat oder eine Demokratie „wie in Amerika“ wird. Sie will nur ihren Mann zurückhaben und ersehnt den Abzug der indonesischen Armee. Sie werde den Indonesiern „niemals vergeben“, schwört sie. „Ich werde gegen sie kämpfen, und wenn ich dafür sterben muß.“

Jutta Lietsch lebt seit 1876 in Südostasien. Sie schreibt regelmäßig als Korrespondentin für die taz