Eine Welt in Kinderträumen

Erwachsene lieben Schrankwände und Einbauküchen. Ganz anders die Wohnwelten für die Kurzen in Kinderbüchern: phantasievoll, chaotisch, verwunschen  ■ Von Lennart Paul

In Karlssons Haus gab es nur einen Raum. In diesem Raum hatte Karlsson eine Hobelbank stehen, zum Hobeln und zum Essen und zum Ablegen von Sachen. Und dann ein Sofa zum Schlafen und zum Draufherumhüpfen und zum Aufbewahren von Sachen. Und dann zwei Stühle zum Sitzen und zum Draufstellen von Sachen und zum Draufsteigen, wenn er irgendwelche Sachen in seinen Schrank stopfen wollte. Das ging aber nicht, denn der Schrank war schon voll von anderen Sachen, von denen, die nicht auf dem Fußboden stehen und nicht an den Wänden hängen konnten, weil dort schon andere Sachen an den Nägeln hingen – und zwar eine ganze Menge.

Astrid Lindgren: „Karlsson vom Dach“

Wohnen ist ein Abenteuer. Die AutorInnen der Kinderbuch-Klassiker wissen das und erträumen Wohnungen, die so verwunschen und kreativ sind, wie die Welt sein könnte, gäbe es nicht die Erwachsenen. Sie denken sich Umgebungen aus, in der sie ihre Geschichten loslösen können vom Mittelmaß des Alltags. Wieviel schwerer fällt es schließlich, eine Geschichte packend zu erzählen, wenn sie zwischen Einbauküche und fabrikgefertigter Wohnzimmerschrankwand gefangen ist.

Und irgendwie sind gute Kinderbuchautoren selbst Kinder geblieben. Sie mußten nur in sich hineinhorchen, um zu erfahren, welche Traumwohnungen sich ihre Leser wünschen. So kreieren sie Keller und Dachböden, Höhlen und Amphitheater, Wälder und Scheunen, in denen sich ihre kurzen Helden häuslich einrichten.

Nicht erst mit den anitautoritären Kinderbüchern der siebziger Jahre zieht das Chaos in die Wohnwelten der Kinderbücher ein. Astrid Lindgren entwirft in „Pippi Langstrumpf“ ein Haus, von dem Kinder nur träumen können: die Villa Kunterbunt. Hier wohnt Pippi in ihrem Durcheinander, zwischen Kommoden und Schränken, die sie mit wunderlichen Dingen vollgestopft hat, und einem Dachboden voller Gerümpel. Auf der anderen Straßenseite leben Thomas und Annika mit ihren Eltern in einem sauberen Schwedenhaus, bei dem die Fransen der Flickenteppiche in Reih und Glied gekämmt sind.

In Kinderbüchern sind Möbel nicht einfach Möbel. In Lewis Carolls „The Lion, the witch and the wardrobe“ zum Beispiel wird ein Schrank zum Tor in einer verwunschene Welt von Phantasie und Abenteuer. Träume gehen in Kinderbüchern ohnehin nur in Erfüllung, wenn keine Erwachsenen in der Nähe sind. Deshalb müssen sich die kleinen Helden auf die Suche nach solch abgeschiedenen Orten machen. Bastian aus „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende entdeckt den Dachboden der Schule, auf dem er ungestört sein Buch lesen kann: „Der Speicher war groß und dunkel. Allerlei Gerümpel stand und lag umher, Regale voller Ordner und seit langem nicht mehr benötigter Akten, übereinander gestapelte Schulbänke mit tintenbeschmierten Pulten, ferner ein paar ausgestopfte Tiere, die halb von Motten aufgefressen waren, darunter eine große Eule, ein Steinadler und ein Fuchs, allerlei chemische Retorten ...“.

Phantastisch lebt es sich in Kinderbüchern vor allem in der Natur. Ob Heidi auf der Alm oder Momo in einem kleinen Amphitheater am Stadtrand – richtig frei werden Kinder erst, wenn sie die Städte verlassen. Draußen, weit weg vondunkler Wohnzimmerschrankwandpiefigkeit, können sie unabhängig von den Regeln der Erwachsenen leben. Fern der Zivilisation entwickeln sie sich zu viel zivilisierteren Menschen. Hier werden die Träume wahr von einem natürlichen Leben, an dem Rousseau seine Freude gehabt hätte. Und in der Wildnis gilt nicht mehr: Ein Tisch ist ein Tisch. Im Nimmerland lebt Peter Pan mit den Verlorenen Jungen in einem Raum unter der Erde: „Den Boden konnte man aufgraben, wenn man fischen wollte; und auf diesem Boden wuchsen kräftige Pilze von reizender Farbe, die als Schemel benutzt wurden. In der Mitte wuchs unermüdlich ein Baum, der jeden Morgen abgesägt wurde. Mittags war der Stamm immer ungefähr sechzig Zentimeter hoch, und dann legten sie eine Tür darauf, so daß das Ganze ein Tisch wurde.“

Kinderbücher verraten, wie Behausungen nicht sein sollen, wenn sie die Phantasie anregen wollen: sauber, geradlinig, unnatürlich. Deswegen bleibt eins von den Spielorten der Kinderbuchliteratur verbannt: Sterilität.

Manchmal aber können sich die Großen mächtig irren, wenn sie sich in die Köpfe der Kleinen hineindenken. In der Astrid Lindgren-Welt im schwedischen Vimmerby hatten große Pädagogen eine besonders tolle Sache ausgedacht: Damit sich die Kleinen wie Große fühlen, wurden die Häuser in Miniformat gebaut. Manche Kinder fanden das arg kindisch: Wer fühlt sich da ernst genommen?