Alle neune auf der Achterbahn

Eines der deutschesten aller Spiele sucht bei den Kegel-Weltmeisterschaften auf niederländischen Scherenbahnen seine Champions und Championessen    ■ Aus Kerkrade Bernd Müllender

Im Vorraum, neben der Kaffeetheke, macht einer minutenlang Stretching-Übungen; eine andere trippelt sich auf der Stelle mit energischen Schritten warm. Den Beobachter ereilt ein spontaner Skepsisreflex: Kann das wirklich sein, daß auch Kegler ihre Körper intensiv dehnen, lockern und auf Wettkampf-Temperatur bringen müssen? Offensichtlich ja. Sportkegeln ist etwas anderes als das gutbürgerliche Treiben auf „Bundeskegelbahnen“ in verqualmten Kneipenkellern bei Jägerschnitzel und viel Bier, dem in Deutschland fast vier Millionen Hobbywerfer regelmäßig frönen. Der Deutsche Keglerbund spricht von einem „Höchstleistungssport“.

Zu wummerndem Discobeat kommen die Akteure aufs Parkett der „Rodahal“ von Kerkrade. Man spielt auf acht Bahnen nebeneinander. Acht Werfer parallel, ein paar Schritte Anlauf, wusch, rrrrums, wieder abgeräumt, alle neune, tosender Jubel, enthusiastisches Gebrüll und Geheul auf den Tribünen. Häufig auf deutsch, aber auch mal: „Henri! Encore!“ Henri läuft an und wieder tout neuf. Jeder hat 120 Wurf in einer Stunde; Freizeitspielchen wie „Totenkiste“ oder „Sechstagerennen“ gibt es nicht, sondern je 60 Kugeln in die vollen und 60 mit Abräumen. Alle 30 Sekunden ein Wurf, da rinnt der Schweiß in Strömen bei manchen der 150 Keglerinnen und Kegler aus zehn Nationen von Argentinien bis Luxemburg, die sich zu den Welttitelkämpfen auf der 18-Meter-Scherenbahn (3,5 Millimeter Kehlung) getroffen haben.

Kegelähnliche Spiele sind seit 3.500 vor Christus aus Ägypten bekannt, „eines der ältesten Ziel-Wurf-Spiele“ überhaupt, rühmt der Deutsche Keglerbund. 1885 wurde er in Dresden gegründet. Heute ist der Weltpräsident Deutscher, die Durchsagen auch bei der WM in den Niederlanden kommen ausschließlich in Deutsch, die Titel räumen mehrheitlich Deutsche ab, und manchmal spricht man auch eine Idee zu deutsch: „Beim Kegeln zum Beispiel in Brasilien trifft sich“, sagt Peter Riedel (69), deutscher Vorständler und „Pressewart Sektion Schere“, „wer halt noch deutsch fühlt.“ Nicht nur dort, in Novo Hamburgo und Blumenau, wo sie bis heute im „Deutschen Turn- und Sportverein von Brasilien“ organisiert sind, haben deutsche Auswanderer die Welt mit ihrem Spiel beglückt. In den USA wurde beim Kegeln gezockt, gewettet, gesoffen, bis es „als unerlaubtes Glücksspiel“ untersagt wurde und in manchen US-Staaten bis heute ist (wahrscheinlich steckt die Bowling-Industrie mit ihren ten pins dahinter). In Italien fing alles am adriatischen Teutonengrill an: „Und mittlerweile“, so Riedel, „gibt es da sogar schon eine Achter-Bahn.“

Herausragende Abräumerin der Weltszene ist Petra Renner (35) von Preußen Lünen, Weltmeisterin 1987, 1991 und zuletzt 1995 in Iserlohn. „Mir wird nachgesagt“, berichtet die schmächtige Diplomökonomin, „ich hätte da was im Unterbewußtsein, um im richtigen Moment das richtige zu tun.“ Magic hands? „Vielleicht auch das“, sagt sie und lacht. Ansonsten: Vier Stunden Kugeltraining pro Woche, Ausdauerläufe und „Talent seit der Wiege“: Renner stammt „aus einer Sportkeglerfamilie“, schon mit zehn Jahren hatte sie in Vaters Auto immer eine Jugendkugel dabei, um in den Wettkampfpausen der Eltern zu wurfüben.

Alle sind Amateure. Sicher, Bundesligaclubs fliegen Spitzenkräfte zum Wettkampf schon mal extra ein, und hier und da werden mal ein paar Mark Kilometergeld gezahlt, um Prämien zu vertuschen. Aber Sponsoren, Fernsehen? Fehlen weitgehend. Selbst ein WM-Titel sorgt höchstens in der Heimatpresse für Schlagzeilen. Die Veranstalter von Kerkrade hoffen, ihre nagelneuen Bahnen (Stückpreis 50.000 Mark) nachher weiterzuverkaufen. Sehr ernsthaft wird in den WM-Ausschreibungen vor Doping gewarnt. Tranquilizer? Captagon? Anabolika? Nichts gab es je von alledem, sagt Peter Riedel, und empört sich zugleich, daß man seinen Schützlingen Manipulationen offenbar nicht mal zutraue: „Wir haben zeitweise die gleichen brutalen Doping-Tests machen lassen wie andere im Deutschen Sportbund. Aber dann hat der DSB sparen wollen und gesagt: Ach, geht besser zu euren Hausärzten, das reicht.“

Auffallend viele Akteure tragen Stützbinden um die Knie, Bandagen, Patellabändchen. Die Bewegung ist einseitig, erklärt Petra Renner, das abrupte Stoppen nach dem Wurf provoziere Zerrungen und drohe auf Dauer Knie- und Hüftgelenke zu ruinieren. Mitte Dreißig läßt Spitzenkeglers Leistung nach: „Die Beine werden müder, und Routine kann die aufkommenden Konzentrationsdefizite nicht kompensieren.“ Als Wendepunkt gilt der Moment, wenn einer auf die vollen zielt und plötzlich die Rinne trifft. Pudel! Das ist, als käme man mit einem Elfmeter nicht bis zum Tor.

Eine junge Niederländerin schafft den seltenen Kegelgau einmal: Rinne! Der Deutsche Jochen Klöpper wirft sechsmal alle neune in Serie. Bei Petra Renner läuft die Kugel im Vorkampf einmal mitten zwischen Bauer und König glatt durch. „Jede Bahn hat ihre eigene Kugellauflinie. Ich bevorzuge die gerade lange Linie, und die läuft hier in Kerkrade nicht so gut.“ Kleinste Bruchteile von Millimetern entscheiden, Holzbeschaffenheit, Luftfeuchtigkeit. Manche Bahn will Druck, fachphilosophieren sie, andere möchten zarter angespielt werden. Der Weltrekord von 906 Holz (von 1.080 möglichen) des 95er Sensationschampions Rogerio Arkie aus Brasilien scheint bei dieser WM jedenfalls unerreichbar.